Zum Tod von Albrecht Schöne
In seiner Monografie Dichtung als verborgene Theologie. Versuch einer Exegese von Paul Celans "Einem, der vor der Tür stand" schrieb Albrecht Schöne:
Auf die Frage "Welches Buch hat Ihnen in Ihrem Leben den stärksten Eindruck gemacht?" gab ausgerechnet Bertolt Brecht zur Antwort – "Sie werden lachen: die Bibel." Nur war das keineswegs das Bekenntnis eines vom Atheismus abgefallenen Marxisten, sondern die als Quellenangabe völlig korrekte Auskunft über ein schriftstellerisches Verfahren, das sich biblische Texte zunutze macht – in entschieden außerbiblischen Diensten. Gottlos und bibelfest zugleich, das mochte Brecht wohl lachenswert finden. Diese Auskunft in eigener Sache gab aber auch zu verstehen, was seine Texte bei den Lesern und Theaterbesuchern noch immer voraussetzten. Die Bibel, hat Herder 1768 erklärt, war die Quelle, "in die meine Einbildungskraft in zarter Kindheit getaucht wurde" (wie das Taufzeugnis eines Dichters mutet das an). Zugleich aber, sagte er, war die Bibel diejenige Quelle, "aus der in das Gedächtnis meiner Leser Ströme geleitet wurden". Deshalb konnten die Redner und Schreiber aller Art, auch die Verfasser weltlicher 'schöner' Literatur jahrhundertelang auf die Bibelkenntnis und überhaupt auf die theologische Sachkunde breiter Leserschichten bauen, fast bis eben noch. Diese Ströme trocknen aus. Da werden wir wahrhaftig Zeitzeugen einer Kulturrevolution. Was damit wegbricht auch im kulturellen Fundament, was damit verlorengeht an kollektiven, die Generationen übergreifenden Verstehensfähigkeiten und Verständigungsgrundlagen, was es etwa auch für die vielberedete Identität eines auf monetäre, wirtschaftliche und politische Einigungen gegründeten künftigen Europa bedeuten mag, wenn die religiösen Energiequellen seiner Kultur versiegen, das lässt sich kaum ermessen.