Das neue Buch von Ferdinand v. Schirach: Regen

Ich sage Ihnen, was mir fehlt: Ich vermisse das Heilige, es verschwindet allmählich aus unserer Welt. Das Geheimnis, das Wunderbare und Unerklärliche ist der tiefste Grund für Kunst. Wenn es das nicht mehr gibt, verschwindet auch sie. Dann ist alles durchdekliniert und sieht aus wie die Oberfläche eines iPhone. Das ist nicht mehr meine Welt. "In der Leere tastend, versuche ich den unsichtbaren weißen Faden des Wunderbaren zu erwischen", heißt es bei Giacometti. Den kleinlichen, rachsüchtigen Feuergott des Alten Testaments finde ich unangenehm. Aber die Geschichten der Bibel sind oft poetisch, es sind große Menschheitserzählungen. Nur wollen sie das gar nicht sein – sie wollen Wahrheit verkünden, keine Märchen erzählen. Das Neue Testament, die Bergpredigt, das ist eine menschenfreundliche, warme Philosophie, den verzweifelten, verlassenen Christus kann ich verstehen. Trotzdem habe ich das Christentum immer als eine traurige, dumpfe und enge Religion empfunden, schon alleine das Kreuz als Symbol ist mir widerwärtig, ein Folter- und Tötungsinstrument. Die Kirche hat über Jahrhunderte den Menschen klein und hässlich gemacht, und ihr Konzept der Sünde stößt mich ab, die Römer betrachteten das Christentum als Sklavenreligion. Mir liegt der wirkliche ehemalige Sklave Epiktet in seiner Klarheit und Einfachheit mehr, der römische Kaiser Marc Aurel in seiner Einsamkeit, seiner Menschlichkeit und seinem Scheitern.
(Ferdinand v. Schirach: Regen. München 2023. S. 105-107)


Münsteraner Forum für Theologie und Kirche (MFThK)