Zum 100. Geburtstag von Georg Kreisler

„Manchmal wird mir die Gretchenfrage gestellt, wie hältst du's mit der Religion, dann stelle ich die Gegengretchenfrage: Meinst du die Religion oder Glaube an Gott? Denn in meinen Augen haben die beiden nur wenig miteinander zu zun. Wenn jemand meint, dass ihm die Religion hilft, an Gott zu glauben, so ist das in Ordnung, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sich Gott um Religionen kümmert. Ob man den Hut aufsetzen oder absetzen, auf Knien rutschen, fasten, Hände falten, Kerzen anzünden und dergleichen soll, haben eindeutig Menschen angeordnet und ordnen es heute noch an, aus welchen Gründen auch immer, und wenn ich mich diesen Anordnungen beuge, beweist das so gut wie nichts, denn dabei kann ich an Gott glauben oder auch nicht. Religion ist Zeitvertreib, der Glaube an Gott ist es nicht. Zu leugnen, dass es einen Gott gibt, ist vor allem unglaublich arrogant, denn es bedeutet, dass alles, was über unseren Horizont geht, nicht existiert. Wenn wir versuchen, einem Hund die Schönheit einer Landschaft zu erklären, so geht das über seinen Horizont, also warum soll nicht auch etwas über den Horizont eines Menschen gehen? Diese bodenlose Überheblichkeit, zu glauben, dass ein Gott, den man nicht sieht, hört oder versteht, auch nicht vorhanden ist, verblüfft und ärgert mich immer wieder. Das Argument der Atheisten, dass ein angeblich gütiger Gott die vielen Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten, mit denen wir täglich konfrontiert werden, nie zulassen würde, trifft ebenfalls ins Leere. Denn auch hier wird nichts anderes behauptet, als dass wir alles verstehen müssen, dass alles nach menschlichem Ermessen erklärt werden kann ... Wir verstehen Auschwitz nicht und daher kann es keinen Gott geben, sagen die Atheisten. Wir glauben lieber, dass die Natur auf unserem und wahrscheinlich auch anderen Planeten rein zufällig funktioniert und sich laufend regeneriert. Darwin erklärt alles ... Uneinsichtiger und überheblicher geht es wirklich nicht.“
Quelle: G. Kreisler, Letzte Lieder. Autobiografie. Zürich 2009. S. 81.

Nun gibt es auch Spinozas Gott, also einen Gott, der alles geschaffen hat und dann weggegangen ist. Aber dem widerspricht unter anderem die Kunst, denn für die Künstler ist der Glaube an Gott eine Selbstverständlichkeit.“
Quelle: G. Kreisler, Letzte Lieder. Autobiografie. Zürich 2009.


Münsteraner Forum für Theologie und Kirche (MFThK)