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Der neue Roman von Jenny Erpenbeck: Kairos

Vorstellung des Buches auf der Webseite des Verlags

Katharina läuft an der Hedwigs-Kathedrale vorbei. Junge Männer stehen um die Kirche herum, als Stasibeamte leicht zu erkennen an ihren Anoraks und am Warten. Die große bronzene Tür der Kirche öffnet sich, Leute kommen heraus, Katharina hört eine Orgel spielen, vielleicht ein Konzert? Kurzentschlossen schlüpft sie hinein, sieht an der Innenseite der Tür einen Zettel: Kommt zur Mahnwache in der Gethsemanekirche, 24 Stunden am Tag. Bringt Blumen und Kerzen mit. Drinnen sieht sie über viele Köpfe hinweg vorn beim Altar eine Gruppe von jungen Männern und Frauen stehen, die Musik hört gerade auf, eine Frau tritt vor und sagt: Ich bin die Saat, ich möchte wachsen und leben. Ein junger Mann tritt vor und sagt: Ich bin Saat und wache auf unter Dornen, Hoffnungslosigkeit droht mich zu ersticken. Dann wieder eine Frau: Ich säe Hoffnung im Dunkeln, denn wir sehen nicht, was wir ausstreuen. Katharina versteht schon, dass dies kein normaler Gottesdienst ist, sondern eine Veranstaltung der Oppositionsbewegung, aber dennoch erinnert sie das alles irgendwie an den Fahnenappell, bei dem ihre Schulfreundin Christina vortreten und ein Gedicht aufsagen musste, dessen Refrain lautete: Ich bin jung, ich will leben! Auch hier in der Kirche wird ein Theater aufgeführt, auch hier sind Menschen versammelt, die sich etwas vorspielen, um Gefühle zu produzieren und durch diese Gefühle eine Gemeinschaft zu werden. Mit zwölf Jahren hat Katharina einmal für acht Wochen abends im Bett heimlich das Vaterunser gebetet, süß war die Hoffnung, dass es einen Gott gäbe. Aber geantwortet hat ihr dieser Gott kein einziges Mal, da hat sie wieder aufgehört mit dem Beten. Wir alle werden geboren als Sünder. Warum eigentlich? Durch das Christentum ist der Begriff der Schuld in die Welt gekommen, und durch den Begriff der Schuld auch diese unendliche, geradezu "schafsmäßige Opferbereitschaft", wie Hans es einmal genannt hat, die aus Leuten eine Gemeinde macht. An die Stelle von Wut und Zorn tritt praktischerweise Milde und allumfassende Liebe, und in schwierigeren Zeiten die Arroganz des Märtyrertums. Nein, auch dieses Theater hält Katharina heute nicht aus, und während sie die schwere, riesige Tür aufdrückt, die der Größe der Gottheit entspricht, aber nicht der Größe eines Menschen, denkt sie: Wenn es keinen Begriff von Schuld gäbe, gäbe es auch nichts zu vergeben, dann käme man ohne einen gnädigen Gott aus.


Münsteraner Forum für Theologie und Kirche (MFThK)