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Zum Tod von Kjell Askildsen (1929-2021)

"Ich werde sterben", sagte David zu Frans.
Frans konnte nicht länger stillsitzen, er stand auf und begann auf und ab zu gehen. Eine Weile lauschte David stumm seinen Schritten, dann sagte er: "Du brauchst nicht nachzugrübeln, wie du mich trösten kannst, falls du das gerade tust. Ich habe es dir nicht darum erzählt. Außerdem hat wohl noch kein Mensch herausgefunden, wie man einem, der schon den Geruch seiner eigenen Leiche riecht, ein wenig Trost spenden kann."
Frans blieb abrupt stehen, nicht weit vom Bett entfernt. David fuhr fort: "Ich glaube an keine höhere Macht."
"Aber dann ..."
"Dann brauche ich mir keine Sorgen zu machen, meinst du. Oder wolltest du vielleicht etwas ganz anderes sagen? Übrigens ist es durchaus nicht von Vorteil, an keinen höheren Sinn zu glauben, und außerdem ist die Vorstellung, das Leben zu verlieren, viel schlimmer als der Gedanke an den Tod. Verstehst du, was ich meine?"
"Nicht ganz."
"Du solltest es aber verstehen, gerade du, der aus lauter Angst, etwas zu verpassen, nicht schlafen will. Und ich wage zu behaupten, dass ich mehr Leben in mir habe als du, nachdem ich seit zwei Monaten weiß, dass ich sterben werde, bevor der Sommer vorbei ist. Und diese Gewissheit, das kann ich dir sagen, die sorgt dafür, dass man zu Verstand kommt!"
David hatte sich im Bett hochgestemmt; er redete nicht laut, aber in seiner Stimme schwang eine Leidenschaft mit, die jedes Wort wie einen Peitschenhieb wirken ließ. "Du sagst, du glaubst an eine höhere Macht, dann glaubst du wohl auch an den Sinn des Daseins?"
"Ich weiß nicht genau, aber es muss wohl einen geben."
"Ach ja, und warum? Aber egal. Entweder gibt es einen Sinn, oder es gibt keinen, die Antwort ist uninteressant, bis zu dem Moment, wo dieser Sinn – wenn es ihn denn gibt – uns bewusst wird. Und das wird nie der Fall sein."
"Weißt du, was ich heute Nachmittag gedacht habe, als ich hier im Bett lag?", fragte er nach einer kurzen Pause. "Ich habe darüber nachgedacht, was ich alles habe erleben können. Ich habe wirklich gründlich nachgedacht, und zum Schluss musste ich mir selber eingestehen, dass es nichts von wirklicher Bedeutung gibt, das ich nicht erlebt hätte. Ich musste zugeben, dass ich lange genug gelebt habe, was notwendige Erfahrungen angeht. Kurz hatte ich deswegen beinahe gute Laune, aber nur einen Augenblick lang, denn dann stellte sich ein weiterer Gedanke ein, ein gedanklicher Wiedergänger: Warum? Zu welchem Zweck und zu welchen Nutzen? Diese Fragen meldeten sich mit einer solchen Heftigkeit, dass ich fürchtete, den Verstand zu verlieren, ich wand mich wie ein ... denn das verursachte mir nicht nur seelisches Leiden, sondern geradezu körperlichen Schmerz. Es gab einen Aufschrei in mir, einen Augenblick lang wusste ich, dass alles – jeder Gedanke, den ich je gedacht, jede Handlung, die ich je vollbracht habe, dass ich geboren worden bin und sterben werde, dass am Tag die Sonne scheint und nachts der Mond –, dass all das vollkommen sinnlos ist. Ja, mir war im selben Moment bewusst, dass auch diese meine Verzweiflung vollkommen sinnlos ist, ebenso nutzlos, wie wenn man Milch in Wein gießt."
Seine Worte hatten ihn mitgerissen; wieder hatte eine gewaltige Leidenschaft Besitz von ihm ergriffen:
"Heute habe ich zum ersten Mal die Verzweiflungsworte von Jesus am Kreuz begriffen: Mein Gott! Mein Gott! Warum hast du mich verlassen. Jetzt verstehe ich sie. Jetzt verstehe ich, dass er auf der Schwelle zu der Seligkeit, die er selbst verkündet hatte, erkennen musste, wie sich alles auflöste, weil ihm die Wahrheit – die Sinnlosigkeit – aufging. Das brachte ihn zu diesem verzweifelten Aufschrei. Und kurz darauf – ich sehe das alles ganz deutlich vor mir –, nach einem weiteren Ausruf, starb er. Du glaubst vielleicht, er starb so schnell, weil Gott ihm weiteres Leiden ersparen wollte? O nein, er starb an dieser Erkenntnis, an einem Schock!"
Frans stand da wie angenagelt; er hatte jedes einzelne Wort begierig aufgenommen. Ohne jede Gegenwehr gegen den Schmerz und die Verzweiflung, die darin lagen, spürte er, der da im Dunkeln stand, dass ihn die Angst übermannte. Er konnte seinen Bruder nicht mehr sehen, als er dessen Stimme wieder hörte, ebenso düster wie die Dunkelheit, aus der sie tönte: "Jesus starb als Ungläubiger."

"Der verfluchte Pfarrer hat gesagt, alles hätte einen Sinn", sagte ich.
"Ich hab's gehört."
"Ich glaube nicht daran."
"Ich auch nicht."
"Ich glaube, überhaupt gar nichts hat einen Sinn."

"Es geht darum, sich mit der Wirklichkeit abzufinden", sagte Georg.
"Ja", sagte Astrid.
"Ihr habt recht", sagte ich.
"Es geht darum, im Augenblick zu leben."
"Ja. Scheiß auf Paris."
"Wie meinen Sie das?"
"Ich wollte diesen Sommer nach Paris. Mit Lilly. Daraus wird jetzt nichts mehr, weil sie tot ist, und ich scheiße darauf."
"Das ist vernünftig."
"Das einzig Vernünftige ist, auf alles zu scheißen."

Leute, die ans ewige Leben glauben, sind nicht ganz zurechnungsfähig, man weiß nie, was denen einfällt.

"Wie anders alles hätte sein können, wenn du nicht an Gott glauben würdest", sagte Gabriel zu seinem Vater.
"Oder wenn du an ihn glauben würdest."
"Ja. So, wie die Dinge stehen, sind wir dazu verurteilt, einander zu quälen."
"Gib daran nicht Gott die Schuld."
"Nicht Gott, sondern der Vorstellung von einem Gott, diesem zählebigen Mythos von einer Macht, mit der wir Taten und Ansichten rechtfertigen, die irgendwann als unmenschlich gelten werden. Du glaubst, Gott sei der Maßstab eines Glaubens, aber das ist nicht wahr, Gott ist der Glaube an Gott, und darum wird Gott sterben, er stirbt schon, Tag für Tag."
"Du bist ja besessen."
"Nein, aber ich glaube an eine Zukunft, die dieses Erbe verweigert, die sich weigert, Gott auf dem Buckel mit sich zu schleppen."


Münsteraner Forum für Theologie und Kirche (MFThK)