"7 Fragen an ..." – Das MFThK-Kurzinterview
10. Folge: 7 Fragen an Viera Pirker

Jede Woche erscheint eine Menge neuer für die Theologin und den Theologen interessanter Bücher – es ist schwierig, hier eine Auswahl für die eigene Lektüre zu treffen. Das Münsteraner Forum für Theologie und Kirche möchte in Zukunft bei der Orientierung auf dem Feld der Neuerscheinungen hilfreich sein und hat deshalb eine neue Rubrik gestartet: "7 Fragen an ..." – Das MFThK-Kurzinterview.
In unregelmäßiger Folge werden bekannte und weniger bekannte Autoren von Neuerscheinungen gebeten, sieben Fragen zu beantworten – die ersten sechs Fragen sind immer gleich, die siebte und letzte ist eine individuelle Frage. Inspiriert ist die neue Rubrik von dem Autoren-Interview auf der Homepage des Transcript-Verlages.
Die Fragen des zehnten MFThK-Kurzinterviews beantwortet die katholische Theologin Viera Pirker, die gerade ihre Promotionsschrift Fluide und fragil. Identität als Grundoption zeitsensibler Pastoralpsychologie veröffentlicht hat.

1. "Bücher, die die Welt nicht braucht." Warum trifft das auf Ihr Buch nicht zu?

Weil der Identitätsbegriff alltagssprachlich und wissenschaftlich Hochkonjunktur hat, von theologischen Disziplinen mitunter aber in seiner Reichweite überschätzt wird. Ein Aufspüren der grundsätzlichen Unterschiede theologischer und psychologischer Annäherungen ist überfällig, denn nur so kann ein interdisziplinär sensibles Verständnis des Identitätsbegriffs für die Praktische Theologie entwickelt werden.

2. Welche neuen Perspektiven eröffnet Ihr Buch?

Zunächst fokussiert meine Untersuchung Genese und Wandel des psychologischen Identitätsbegriffs. Neben einer Darstellung und Hinterfragung gegenwärtig bedeutsamer Theorien werden psychotherapeutische und -diagnostische Perspektiven ausführlich einbezogen, die in sozial- und entwicklungspsychologischen Debatten eher randständig sind. Dieser Schwerpunkt ergibt sich aus der pastoralpsychologischen Perspektive der Untersuchung.
Die wissenschaftstheoretische Verortung der Pastoralpsychologie ist aktuell angefragt. Ich reflektiere ihre eher unbekannte katholische Frühgeschichte in der ersten Häfte des 20. Jahrhunderts und entwickle die Pastoralpsychologie als ein transdisziplinäres Forschungsprinzip Praktischer Theologie, das an lebensweltlichen Problemstellungen ansetzt und sich auf deren Lösung in der Praxis hin orientiert.
Grenzen und Reichweite des psychologischen Identitätsbegriffs werden schließlich mit theologisch-anthropologischen Perspektiven zusammengeführt. Daraus entsteht eine neue Metapher der fluiden und fragilen Identität: Sie berücksichtigt die gegenwärtigen Bedingungen der Identitätskonstruktion und bezieht theologische Existenzialien mit ein, die über die psychologischen Möglichkeiten hinausdeuten.

3. Welche Bedeutung kommt dem Thema in aktuellen theologischen und kirchlichen Debatten zu?

Für gegenwärtige theologische Rede ist es eine diffizile Herausforderung, nichttheologische Phänomene als solche anzuerkennen und in ihrer Eigenständigkeit zu respektieren. Nicht nur die katholische Kirche tut sich zunehmend schwer damit, ihren Ort in den aktuellen gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Bedingungen zu bestimmen. Mit welchem Verständnis vom Menschen setzen Theologie und Praxis im Kontext der Kirche heute an? Wie verstehen sich die Menschen selbst? Worauf hin leben sie, woran glauben sie, was suchen sie, woran scheitern und verzweifeln sie? Dies berührt neuralgische Punkte: Theologische Rede steht trotz allem Bemühen um Subjektorientierung immer in der Gefahr, Identität theologisch-anthropologisch zu sehr von Gott her zu denken. Sie überschreitet damit die Reichweite dessen, was psychologisch, soziologisch, kulturwissenschaftlich mit dem Begriff Identität ausgesagt werden kann. Henning Luther hatte mit der ‚Identität im Fragment' die richtige Richtung vorgegeben. Sein Ansatz ist aktualisierungsbedürftig, da er auf Debatten der 1980er reagiert und an diese gebunden ist. Die existenziellen Dimensionen der ‚Grenzerfahrung Identität' haben sich inzwischen verändert, sind aber keineswegs unwichtiger geworden. Für eine pastoralpsychologisch ansetzende Praktische Theologie ist es eminent, die Menschen in ihrer Gegenwärtigkeit wahr- und ernstzunehmen und die Konstruktionen von Identität besser zu verstehen, denen alle Menschen - seien sie religiös oder nichtreligiös - unterworfen sind.

4. Mit wem würden Sie Ihr Buch am liebsten einmal diskutieren?

Wenn es noch möglich wäre: Mit Henning Luther.

5. Ihr Buch in einem Satz:

Die Untersuchung versteht den Diskurs um Identität als wesentliche Grundoption einer gegenwartssensiblen Pastoralpsychologie und entwickelt Perspektiven für einen psychologisch und theologisch verantworteten Umgang mit eigenen und fremden Konstruktionen und Prozessen der Identität.

6. Sie dürfen fünf Bücher auf die sprichwörtliche einsame Insel mitnehmen. Für welche Bücher entscheiden Sie sich?

1) Benediktinisches Brevier.
2) Christoph Ransmayer, Atlas eines ängstlichen Mannes.
3) Siri Hustvedt, Living, Thinking, Looking.
4) Peter Doig (hrsg. von Richard Shiff, Catherine Lampert).
5) Wolfgang Hildesheimer empfahl ein Kursbuch der Bahn als ideale Lektüre für vergleichbare Situationen. Mehr Spaß würde mir vermutlich das von ihm als ungenau verschmähte Telefonbuch bereiten. Aber wer steht da heute überhaupt noch drin? Um über solche Zusammenhänge nachdenken zu können, packe ich am besten ein Notizbuch ein.

7. Was soll "zeitsensibel" bedeuten? Was ist eine zeitsensible Theologie, eine zeitsensible Pastoralpsychologie? Geht das überhaupt?

Zeitsensibel bedeutet für mich: Aufmerksam sein. Aufmerksam für die Gegenwart, aber auch aufmerksam für die rechte Zeit. Früher wäre das vielleicht als „modern“ bezeichnet worden. Doch diese Zeit ist vorbei und verändert. Die Postmoderne hat jede Diskursivität zu neuen und erweiterten Hinterfragungen geführt. Sie reflektiert das, was ist, auf das Innerste und auf das Eigentliche, sie geht den Dingen, gut begründet, auf den Grund.
Zeitsensibel bedeutet: Aufmerksam sein für das, was an der Zeit ist. Andere nannten dies Kairologie, also ein Wissen aus der wissenschaftlichen und pastoralen Analyse der Zeichen der Zeit, die als Absicht Gottes in der Welt zu lesen sind. Nach dem biblischen Begriff kairos beinhaltet dies das Wissen um den rechten Zeitpunkt (z.B. Mk 1,15).
Zum einen ist es an der Zeit, eine neue Aufmerksamkeit für die Pastoralpsychologie zu entwickeln. Sie hat einen besonderen Forschungszugang zur Theologie gelegt, der durch verschiedene Grabenkämpfe des 20. Jahrhunderts verschütt zu gehen droht. Mit ihrer ganz eigenen Stimme bietet sie den geeigneten Zugang zu dem, was theologisch ganz besonders an der Zeit ist: Eine offene Aufmerksamkeit für die Menschen in der Gegenwart zu entwickeln. In all ihren Unsicherheiten und Stärken, und in ihren gegenwärtigen individuellen und sozialen Identitätskonstruktionen, sogar wenn die zwischen Indifferenz und Fundamentalismen zum Zerreißen weit gespannt scheinen. Längst nicht nur in solchen Extremen liegt die Existenz. Es hilft nichts: Identität muss letztlich als ein eschatologischer Begriff gelesen werden. Zeitsensibel bedeutet daher für mich auch ewigkeitssensibel.


Münsteraner Forum für Theologie und Kirche (MFThK)