"7 Fragen an ..." – Das MFThK-Kurzinterview
51. Folge: 7 Fragen an Ingolf U. Dalferth
anlässlich des Erscheinens seines Buches

Jede Woche erscheint eine Menge neuer für die Theologin und den Theologen interessanter Bücher – es ist schwierig, hier eine Auswahl für die eigene Lektüre zu treffen. Das Münsteraner Forum für Theologie und Kirche möchte bei der Orientierung auf dem Feld der Neuerscheinungen hilfreich sein und hat deshalb 2012 die Rubrik "7 Fragen an ..." – Das MFThK-Kurzinterview gestartet.
In unregelmäßiger Folge werden bekannte und weniger bekannte Autoren von Neuerscheinungen gebeten, sieben Fragen zu beantworten – die ersten sechs Fragen sind stets dieselben, nur die siebte und letzte Frage ist eine individuelle Frage. Diese wird in der Regel von einem externen Fragesteller formuliert.
Die Fragen der 51. Folge beantwortet der evangelische Theologe und Religionsphilosoph Ingolf U. Dalferth. Gerade ist sein neues Buch erschienen: Sünde – Die Entdeckung der Menschlichkeit.

1. "Bücher, die die Welt nicht braucht." Warum trifft das auf Ihr Buch nicht zu?

Die Welt braucht keine Bücher, auch nicht dieses. Aber wir alle müssen uns immer wieder mit unseren Vorurteilen auseinandersetzen und prüfen, was davon mit Gründen vertreten werden kann und was zu korrigieren ist.

2. Welche neuen Perspektiven eröffnet Ihr Buch?

Der Topos der Sünde ist kein Ausdruck einer negativen Anthropologie. Wer das meint, verwechselt die Erläuterungen der Sünde mit dem, was sie zu erläutern suchen. Offensichtlich war die christliche Tradition so erfolgreich mit ihren Bemühungen, das Sündersein der Menschen durch den Verweis auf moralische Laster und gesellschaftliche Übel zu belegen, dass heute weithin die Beispiele für die Sache genommen werden. Doch man ist das Thema nicht los, wenn man sich an diesen Beispielen abgearbeitet hat. Beim Thema Sünde geht es nicht zuerst um die Aufdeckung unserer Abgründe und Verfehlungen, sondern vor allem um die Entdeckung der Leitplanken unserer Menschlichkeit, an denen sich unser Umgang mit anderen Menschen, mit uns selbst und mit anderen Lebewesen orientieren könnte und sollte.

3. Welche Bedeutung kommt dem Thema in aktuellen theologischen und kirchlichen Debatten zu?

Der Versuch, den Topos der Sünde aus der theologischen und kirchlichen Debatte zu verbannen, ist Ausdruck fehlender theologischer Selbstkritik. Gerade weil am Sündendiskurs der Tradition viel zu kritisieren ist, muss man darauf achten, nicht Fehler durch Fehler zu korrigieren. Bevor man das Thema verwirft, sollte man versuchen, es zu verstehen.

4. Mit wem würden Sie Ihr Buch am liebsten einmal diskutieren?

Mit mir in dreißig Jahren.

5. Ihr Buch in einem Satz:

Die Aufdeckung der Sünde ist der Schlüssel zur Entdeckung der Möglichkeiten unserer Menschlichkeit, weil sie deutlich macht, dass wir auch dann nicht ohne Gott leben, wenn wir nichts von Gott merken, nicht auf Gott achten und nichts von Gott halten.

6. Sie dürfen fünf Bücher auf die sprichwörtliche einsame Insel mitnehmen. Für welche Bücher entscheiden Sie sich?

Ein paar dicke leere Notizbücher; die Bibel; Bachs Kunst der Fuge; ein Backgammonspiel (falls Hume vorbeikommt), vor allem aber einige weitere in der Einsamkeit Gestrandete, die ganz andere Ansichten haben als ich und auch nicht immer nur lesen wollen.

7. Die siebte Frage stammt von der katholischen Theologin Dorothea Sattler: Bruder Dalferth, Sie wählen einen anthropologischen Ansatz bei Ihrer sehr hilfreichen Analyse der Wirklichkeit der Sünde im Leben der Menschheit. Sehen Sie auf dieser Basis Möglichkeiten zu ökumenischen Annäherungen in den verbleibenden Kontroversen – insbesondere im Hinblick auf die Passivität und die Aktivität des Menschen im Geschehen der Erlösung?

Liebe Frau Sattler, vielen Dank für diese in der Tat wichtige Frage. Man kann theologisch nicht über Sünde nachdenken, ohne auch mit den konfessionellen Kontroversen und ökumenischen Verständigungsversuchen befasst zu sein. Wie kann man die Unversalität der Sünde theologisch denken, ohne sich in einer fragwürdigen Geschichtsmetaphysik oder einer schwarzen Anthropologie mit einer einseitig negativen Sicht des Menschen zu verfangen? Nicht indem man konkretes Fehlverhalten generalisiert und allen Menschen das zuschreibt, was man bei einigen oder vielen beobachtet, sondern indem man von dem Guten ausgeht, das Gott – wie Thomas sagt (STh I/II q.55 a.4) – „in uns, ohne uns“ wirkt. Es gibt Erlösung nur durch Gott, und es gibt sie nicht ohne Menschen, die von sich aus nicht so leben, wie es für sie möglich und gut wäre. Erst von dem Guten her, dass Gott ohne die Menschen für sie wirkt, wird deutlich, was Menschen fehlt, die dafür blind sind: Sie ignorieren das Gute, das Gott ihnen gibt, und können doch nur leben, indem sie es in Anspruch nehmen. Ohne ihr Dasein, das sie nicht sich selbst, sondern allein Gott verdanken, könnten Menschen nicht leben, und niemand lebt, ohne sich im Lebensvollzug positiv oder negativ zur Tiefenpassivität seines Daseins und damit zur Gegenwart der Liebe Gottes zu verhalten. Diese ist das erste, alles andere das zweite. Für diese Reihenfolge blind zu sein, ist Sünde, sie anzuerkennen und sich an ihr zu orientieren, nur möglich durch Gottes Wirken. Gott schafft Sein aus Nichtsein, Gutes aus Üblem, Leben aus Tod, Einsicht aus Blindheit, Aufmerksamkeit aus Desinteresse, Liebe aus Ablehnung. In keinem Fall ist das, wovon an der zweiten Stelle die Rede ist, aktiv an dem beteiligt, was an der ersten Stelle gesagt und Gott zugeschrieben wird. Das ist die Struktur der Erlösung. Kann man sich darauf ökumenisch verständigen, könnte man mit den verbleibenden Differenzen leben.


Münsteraner Forum für Theologie und Kirche (MFThK)