"7 Fragen an ..." – Das MFThK-Kurzinterview
57. Folge: 7 Fragen an Hubertus Lutterbach
anlässlich des Erscheinens seines Buches

Jede Woche erscheint eine Menge neuer für die Theologin und den Theologen interessanter Bücher – es ist schwierig, hier eine Auswahl für die eigene Lektüre zu treffen. Das Münsteraner Forum für Theologie und Kirche möchte bei der Orientierung auf dem Feld der Neuerscheinungen hilfreich sein und hat deshalb 2012 die Rubrik "7 Fragen an ..." – Das MFThK-Kurzinterview gestartet.
In unregelmäßiger Folge werden bekannte und weniger bekannte Autoren von Neuerscheinungen gebeten, sieben Fragen zu beantworten – die ersten sechs Fragen sind stets dieselben, nur die siebte und letzte Frage ist eine individuelle Frage.
Die Fragen der 57. Folge beantwortet der Essener Christentums- und Kulturgeschichtler Hubertus Lutterbach zu seinem neuen Buch Urtümliche Religiosität in der Gegenwart.

1. "Bücher, die die Welt nicht braucht." Warum trifft das auf Ihr Buch nicht zu?

... ganz einfach, weil mein Thema inmitten unserer Lebenswelt ansetzt und sie verstehen hilft! Mein Buch will die Augen öffnen und Deutungsangebote vorlegen für religiöse Phänomene, über die Print- und Online-Medien täglich berichten, obgleich aufgeklärte Menschen sie allzu voreilig als magisch oder abergläubisch abtun: zum Beispiel die Opferung von Tierblut für den Lottogewinn, der Umgang mit unverwesten Verstorbenen oder ein Kind als Letztentscheider über den Papst. Als Wissenschaftler spreche ich hier von Ausdrucksweisen "urtümlicher Religiosität". Ich meine damit eine Religiosität, die im Rahmen eines symbiotischen Weltverhältnisses auf unhinterfragter mythischer Spekulation beruht und bei der Menschen den Glauben an Ritual, "Kult" und Verfahren in den Vordergrund stellen, um mit Gott(-heiten) in Kontakt zu gelangen. Davon grenze ich eine "vergeistigte Religiosität" ab, in deren Rahmen Menschen im Gegenüber zur Welt eine individuell angeeignete (Reflexions-)Theologie ethisch(-rational) wirksam werden lassen und so mit dem Göttlichen in Verbindung treten. – Wer hat sich denn schon einmal vergleichend Gedanken darüber gemacht, was eine Entscheidungsprozedur oder eine Körpermarkierung, Sexualität oder Identität, Bilder oder Rituale in urtümlichen und vergeistigten Settings bedeuten?! Mein Buch ist voll von solchen religionsgeschichtlich perspektivierten Gegenüberstellungen, über die man in einer religiös und kulturell pluralen Gesellschaft gar nicht genug Bescheid wissen kann!

2. Welche neuen Perspektiven eröffnet Ihr Buch?

Das Buch erläutert urtümliche Religiosität anhand von aktuellen Beispielen aus vielen Teilen der Welt. In unserem eigenen Kulturkreis hat diese basale Religiosität im Frühmittelalter – also zwischen 500 und 900 n. C. – dominiert. Aber – dafür will mein Buch sensibilisieren – auch heute kommt sie trotz unseres Vertrauens auf aufgeklärtes und naturwissenschaftliches Denken bei uns vor: die Bedeutung der Formstrenge in der Liturgie – man denke nur an die sog. Tridentinische Liturgie; die Ablehnung des Frauenpriestertums – gewiss auch, weil man Frauen weiter für kultisch unrein hält; der auch heute große Einfluss von Clan-Denken, weil eben für Menschen Blut noch immer dicker ist als Wasser!

3. Welche Bedeutung kommt dem Thema in aktuellen theologischen und kirchlichen Debatten zu?

Mein Buch plädiert dafür, dass interreligiöses Lernen auch urtümliche Religiosität einbeziehen muss. Und: dass sich die Ökumene nicht länger allein auf die Weltreligionen beschränken kann. In beiden Fällen braucht es erweiterte Perspektiven dringlich. Und am Schluss gehe ich auf die Frage ein: Welche Ausdrucksweisen urtümlicher Religiosität sind in unserem Staat tolerierbar, welche nicht? Hier können sich starke Wertekonkurrenzen auftun zwischen der "Option für urtümliche Religiosität" und dem "Eintreten für die Menschenrechte"!

4. Mit wem würden Sie Ihr Buch am liebsten einmal diskutieren?

Wenn er noch leben würde, würde ich gern mit Hans Küng sprechen, weil ich finde, dass der es sich mit seinem insgesamt inspirierenden "Weltethos" – wie so manche andere ähnlich gelagerte Initiative – zu einfach gemacht hat, wenn er davon ausgeht, dass alle Religionen die Gewaltlosigkeit und das Leben aller Menschen wollen. Nein, das ist nicht so, sondern trifft – wenn überhaupt! – erst einmal auf die Weltreligionen zu, aber längst nicht auf alle Menschen und Gemeinschaften, die auch heutzutage urtümliche Religiosität praktizieren. – Als zweites würde ich gern mit einem/einer Ökumene-Fachmann/Fachfrau sprechen – zum Beispiel mit Perry Schmidt-Leukel, von dessen Entwurf einer pluralistischen Religionstheologie ich viel gelernt habe.

5. Ihr Buch in einem Satz:

Das Buch erläutert – ausgehend von Notizen in aktuellen Zeitungen und Medien – kultur- und epochenübergreifend Phänomene urtümlicher Religiosität und stellt sie unter Einbezug der Achsenzeittheorie von Karl Jaspers ihren vergeistigten Pendants komplementär gegenüber, um Leserinnen und Leser für die Vielfalt religiösen Lebens in der Gegenwart zu sensibilisieren und um neue Horizonte für interreligiöses Lernen und ökumenisches Wirken anzuregen.

6. Sie dürfen fünf Bücher auf die sprichwörtliche einsame Insel mitnehmen. Für welche Bücher entscheiden Sie sich?

1. Die Bibel. Darin lese ich jeden Tag.
2. Thomas Merton, Der Berg der 7 Stufen. Mein geistliches Antidepressivum
3. Bernhard von Clairvaux, De consideratione. Meine bewährte Orientierung bei Kirchenfrust
4. Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter. Das Lebenswerk meines wissenschaftlichen Meisters
5. Andreas Holzem, Christentum in Deutschland (1550-1850). Eine magistrale Studie, die mich schon oft auf neue Ideen gebracht hat.

7. Die siebte und letzte Frage stammt vom Gründer und Chefredakteur des MFThK: 7. Was unterscheidet christliche Religiosität von urtümlicher Religiosität?

Das neutestamentliche Christentum kennt in Fortsetzung jüdischer Überzeugungen keine nationalen und sozialen Unterschiede unter den Menschen: Jeder Mensch ist Mensch, ja Geschöpf oder Kind Gottes. Diese Grundüberzeugung spiegelt sich bis heute zum Beispiel im christlich initiierten "Gebetstreffen von Assisi" von 1986 wider, das seitdem durch regelmäßige "Weltgebetstreffen" fortgesetzt wird. Im Unterschied dazu ist den Anhängern urtümlicher Religiosität(en) eine universale Weltvorstellung gewöhnlich fremd. Also beispielsweise die Idee einer jedem Menschen geltenden "Caritas", wie sie das neutestamentliche Christentum – wiederum in Fortsetzung jüdischer Glaubensvorstellungen – alltagspraktisch entwickelt hat.
Freilich: Als die Christen im Laufe ihrer Geschichte mit religiös urtümlich ausgerichteten Kulturen in Kontakt gekommen sind, haben sie denen einerseits von ihren Errungenschaften weitergegeben: Buchkultur, Schriftlichkeit, Hospizwesen, Erziehung zur Innerlichkeit etc. Andererseits aber ist das Christentum auch von urtümlicher Religiosität geprägt worden: sichtbar zum Beispiel anhand der Kreuzzüge, bei denen Christen die Befreiung von religiösen Kultstätten (die im Christentum im Unterschied zu einem urtümlichen Religionshorizont ursprünglich keine Bedeutung hatten) wichtiger war als das Leben der andersgläubigen Mitmenschen; gleichermaßen ablesbar an dem im Rahmen urtümlicher Religiosität verbreiteten "Rechnen" – oder besser: Verrechnen von frommen menschlichen Leistungen und göttlichen Gegenleistungen, wie sich derlei im mittelalterlichen Bußwesen oder bis heute im Mietpilgertum zeigt.


Münsteraner Forum für Theologie und Kirche (MFThK)