"7 Fragen an ..." – Das MFThK-Kurzinterview-Spezial
zum 90. Geburtstag von Peter Hünermann

Peter Hünermann feierte am 8. März seinen 90. Geburtstag. Anlässlich dieses Ereignisses durfte ihm das MFThK sieben Fragen stellen.

1. Stellen Sie sich vor, Sie könnten mit einer Zeitmaschine in die Vergangenheit reisen und hätten die Wahl auf Ihrer Reise drei Gelehrte der Theologie- und Philosophiegeschichte zu treffen. Wem würden Sie begegnen wollen und warum?

Die Frage ist für mich nicht zufriedenstellend zu beantworten, weil ich den Eindruck habe, dass ich mit erheblich mehr als drei philosophischen oder theologischen Gelehrten in einem nahezu täglichen Dialog stehe. Sie geben mir kontinuierlich immer wieder neue Anregungen. Raffael wäre beim Malen der Stanzen auch hilflos vor einem solchen Auftrag gestanden. Das ist so, weil ich bereits als Student begonnen habe, systematisch Klassiker der Theologiegeschichte zu lesen, angefangen von den Apostolischen Vätern. Ab meiner Habilitation habe ich jedes Semester Seminare, von meiner Berufung nach Münster 1971 ab Oberseminare in einem dreisemestrigen Turnus zu Texten theologischer und philosophischer Klassiker aus Patristik, Mittelalter und Moderne gelesen und diskutiert.

2. Welches Erlebnis als Seelsorger hat Sie am tiefsten geprägt?

Mit der zweiten Frage verhält es sich ähnlich. Wirklich bewegende und tiefe Erfahrungen und Erlebnisse hatte ich viele. Man begegnet so häufig dem Geheimnis Gottes im Leben der Menschen. Ich kann deswegen nur zwei als Beispiele unter einer großen Anzahl herausgreifen.
Erstens das Gespräch mit einer betagten und schon gebrechlichen Krankenschwester, die beim Schneefall auf der Landstraße zum nächsten Dorf hingefallen war, ein Bein gebrochen hatte, von vorüberfahrenden Autos nicht mitgenommen wurde und dabei über den Samaritaner des Evangeliums meditiert. Sie landete erst zehn Stunden später in der Notaufnahme des Krankenhauses und war nicht verbittert, sondern gelassen und heiter.
Oft verspürte ich tiefe Freude, wenn ich nach der morgendlichen Anrufung des Geistes in der Vorlesung vom Geheimnis Gottes Zeugnis ablegen und ein gewisses Verstehen vermitteln konnte. Ähnlich die Erfahrung des Friedens, wenn ich manchmal den Eindruck hatte, in diesem Fall musst du als Theologe deinen öffentlichen Einspruch erheben, auch wenn dich das deinen Lehrstuhl kosten würde.

3. Viele junge Theologinnen und Theologen kennen Sie nicht mehr persönlich und nicht mehr durch ihre eigenen Schriften, sondern vermittelt durch die Schriften ihrer Professorinnen und Professoren. Ist es möglich Ihre theologischen Anliegen in nicht mehr als fünf Sätzen zu charaktersieren?

Ich will versuchen, in fünf kürzeren Statements zu antworten:
1. Schon während des Theologiestudiums, verstärkt bei der Promotion und bei der Arbeit an der Habilitationsschrift war mir der geschichtliche Grundcharakter der Theologie aufgegangen, wurden mir die unterschiedlichen Welt-Horizonte der Kulturen und der Denkformen bewusst. Am Ende des Philosophie- und Theologiestudiums stand für mich fest: Die systematische Theologie muss grundlegend transformiert und fortgeschrieben werden.
2. Vom Beginn meiner Dogmatik-Vorlesung 1971 in Münster an habe ich die dogmatischen Traktate wie folgt aufgebaut: Auf einen Aufriß der gegenwärtigen Problematik und einer Darlegung der angewandten Methodik folgten stets ein Kapitel über die entsprechenden alt- und neutestamentlichen Fragen, eine patristische, eine mittelalterliche und moderne Charakteristik der jeweiligen Sachfragen. Die Neuzeit wurde aufgeteilt nach Reformation, Gegenreformation, Barockscholastik, Aufklärung und Neuscholastik und eine Darlegung der heutigen Sicht auf der Basis des Zweiten Vatikanischen Konzils.
3. Es wurde nicht einfach eine historische Aufarbeitung geboten. Vielmehr versucht die kulturellen und gesellschaftlichen Implikationen und die unterschiedlichen philosophischen Denkformen zu thematisieren, umd so die epochale Einordnung der jeweiligen lehramtlichen Glaubenslehren und der theologischen Entwicklungen in ihrer kontextuellen Kohärenz sichtbar zu machen.
4. Der Grund für die inhaltliche Gestaltung: Die Überlieferung des Glaubens ist kein beiläufiges Moment des Christentums, sondern gehört konstitutiv dazu.
5. Nur so zeigen sich die noch unentdeckten oder schuldhaft übersehenen bzw. unberechtigt abgewiesenen theologischen Sachverhalte. Dazu ist die moderne Philosophie und ihr kritisches Denken unabdingbar.

4. Was haben Sie durch die Arbeit am "Denzinger" über die Kirche und ihre Wandlungsfähigkeit gelernt?

Zwölf Jahre Arbeit stecken in der mehrsprachigen Ausgabe des Denzinger nach dem II. Vatikanischen Konzil. Als die Übersetzungsarbeit und die kritische Überprüfung der Texte, Einleitung etc. sich dem Ende näherten, stellte sich die herausfordernste Aufgabe: Die völlige Neugestaltung der Register für die gesamte Textsammlung. Die alten Register stellten sich als ungeeignet heraus, die Fülle der neu aufgetauchten theologischen Sachverhalte in der Lehre der Dokumente zu erfassen. Die theologische Landschaft hatte sich entscheidend und tiefgründig verändert. Der systematische Index von Rahner und Schönmetzer war strukturiert nach dem vier Ursachen-Schema des Aristoteles und einfach unbrauchbar geworden. Die Register mussten der geschichtlichen Eigenheit der Texte und den sich von daher ergebenden Zusammenhängen, Brüchen und Transformationen Raum geben.

5. Einem Theologiestudenten im ersten Semester sollen Sie drei Ratschläge erteilen – welche wären das?

Ich würde einem Theologiestudenten, den ich nicht kenne, dessen Fragen und Probleme mir völlig unbekannt sind, nie Ratschläge geben. Niemand ist ein Durchschnittsmensch.

6. Wie beurteilen Sie das bisherige Pontifikat von Papst Franziskus? Stellen Sie sich vor, Sie träfen morgen Papst Franziskus. Was würden Sie ihn fragen wollen?

Die 6. Frage stellt zwei Fragen: a) Wie beurteilen Sie das bisherige Pontifikat von Papst Franziskus? b) Stellen Sie sich vor, Sie träfen morgen Papst Franziskus, was würden Sie ihn fragen wollen?
a) Der geistliche Aufbruch zum Kern christlichen Glaubens von Papst Franziskus ist ein großes Geschenk des Heiligen Geistes für unsere krisengeschüttelte Kirche. Meine kritische Anfrage an ihn: Warum haben Sie nicht Schritt für Schritt bei Ihren verschiedenen Initiativen und Neuansätzen kirchenrechtliche Absicherungen vorgenommen? Ein CIC, der eine fundamentalistische Konzeption des Ius divinum impliziert, muss korrigiert werden.
b) Meine Frage wäre, was kann ich für Sie tun?

7. Wo sehen Sie die größten Herausforderungen der Theologie im 21. Jahrhundert?

In der Gotteslehre und in der theologischen Anthropologie.
Unsere Glaubenssprache und Lehre ist hinsichtlich der implizierten Anthropologie einer grundlegenden Revision zu unterziehen, weil sie weitgehend von Dichotomien geprägt ist: Seele-Leib, Materie-Geist, Natur-Freiheit. Das gesamthafte Werden und Einssein von Materie und Geist, Natur und Freiheit, Seele und Leib bedarf der Aufarbeitung und der Vermittlung mit den Natur- und Geisteswissenschaften. Das betrifft die Schöpfungslehre, den Gnadentraktat, die Ekklesiologie, die Sakramentenlehre und Kult- und Liturgielehre, die Eschatologie. In Bezug auf die theologische Gotteslehre gewinnt die Vor-Denklichkeit Gottes und die Immanenz Gottes in Mensch und Schöpfung ein ganz neues Gewicht. Das Mysterium Gottes: In sich selbst, in und ebenso durch Schöpfung und Mensch bietet dann die Möglichkeit, die Christologie neu zu artikulieren und die zutiefst von der Anthropologie abhängigen übrigen dogmatischen Traktate logisch vertieft aufzuarbeiten.
Es geht angesichts der heutigen "Schall-Mauer" zwischen Christentum und moderner Gesellschaft darum, den Glauben überhaupt verständlich zu machen.


Münsteraner Forum für Theologie und Kirche (MFThK)