10 Fragen zu den Lesungen in der Osternacht
Das MFThK-Osterinterview mit den Bibelwissenschaftlern
Egbert Ballhorn und Georg Steins

1) "Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut." (Gen 1,31) – Wirklich? Hat Gott nicht auch die Viren gemacht? Was soll daran gut sein?

Steins: Wir hören diese sieben alttestamentlichen und die zwei neutestamentlichen Lesungen in der Osternacht nicht kontextlos. Das triduum paschale, der Österliche Dreitag, inszeniert und feiert einen Übergang, eine Verwandlung. Das ist auch der hermeneutische Grundimpuls aller biblischen Texte: Sie wollen nicht informieren, vielmehr transformieren, den Blick ändern und die Hoffnung auf eine "gute" Wirklichkeit bestärken.

Konkret: Der erste Text der Bibel beschreibt nicht, was ist, sondern was – nach Gottes Willen – sein soll. Das wird zum Beispiel am Ende deutlich in dem Friedensbild, worin Gott allen Lebewesen Nahrung zuweist, nämlich alle Pflanzen, die auf der Erde wachsen. Dabei ist die Urkonkurrenz um Lebensmittel überwunden. Mit den Worten eines modernen Philosophen: Das, was ist, ist eben nicht das Wahre. Religion will die Verwandlung, die Transformation. Im Horizont der Utopie des Gelingens tritt das "Übel" umso schärfer hervor, kann es benannt, demaskiert und engagiert überwunden werden. So etwa lässt sich in drastischer Kürze die mit Genesis 1 eröffnete Transformationsdynamik der Bibel charakterisieren.

Deshalb passt Gen 1 in die Osternacht: Der Einstieg mit den archetypischen Todesbildern – und dann die Konfrontation mit dem Licht: Gott tritt von Anfang an den Mächten des Todes entgegen. Wer über Corona spricht, sollte nicht zu schnell von Gott sprechen und die Welt erklären wollen. Der erste Blick muss auf die Menschen, die Mächte und ihre Machenschaften fallen. Mit der Bibel lassen sich auch in der "Coronakrise" die Interessen von allmächtigen Staatsparteien, profitgierigen Organisationen, von Hybris gesteuerten Politikern, zerstörerischen Konsumgewohnheiten u. ä. scharf beleuchten. Gen 1 ist ein kritischer Text, der eine Politik entlarvt, die eben nicht den Todesmächten entgegentritt, sondern zur Komplizin wird.

2) "Als Mann und Frau schuf er sie." (Gen 1,27) – Nicht auch divers?

Steins: Die neue Einheitsübersetzung gibt diesen Satz (endlich) sprachlich korrekt wieder: "Männlich und weiblich erschuf er sie." Das ist im biblischen Zusammenhang ein besonders kritischer Satz. Er spricht jedem Menschen die Würde zu "Bild, d.h. Stellvertreter Gottes auf Erden zu sein" – verbunden mit der Verpflichtung, gleichsam Gottes Sorge für die Schöpfung mitzutragen. Und dabei gibt es keinen Unterscheid zwischen dem männlichen und dem weiblichen Menschen! Eine im antik-orientalischen Kontext revolutionäre Position. – Wenn wir nur bedenken, wie lange die (moderne!) Medizin, nicht allein die Theologie, gebraucht hat, Diversität als natürlich und gut anzuerkennen, sollten wir demütig werden und antiken Texten, die immer auch Ausdruck ihrer Zeit und eines begrenzten kulturellen Horizontes sind wie alle Texte (so das Vaticanum II), nicht zu viel an Einsicht abverlangen. Was wir heute ethisch, politisch, rechtlich aus den biblischen Überlieferungen machen, ist eine komplexe Frage, um die die Theologie im Kontext aller anderen Wissenschaften immer wieder ringen muss. Hier gibt es kein "frommes" Erkenntnisprivileg, das haben nur biblizistische Fundamentalisten.

3) Gen 22,1-18: Warum stellt Gott Abraham auf die Probe? Muss das sein?

Steins: Diese wirklich abgründige Erzählung steht nicht am Rande der Bibel, sondern fasst am Anfang in der Figur des Abraham zusammen, dass der Gott der Bibel sich allem Kalkül widersetzt. Abraham wird gegen Ende seines Lebens in die dunkle Nacht des Glaubens geführt, in die Gottfremde. Die Bibel nennt das "Versuchung" ("Probe" oder "Prüfung" sind viel zu schwache Übersetzungen). Im Vaterunser beten die Christinnen und Christen darum, vor einer solchen extremen Gotteserfahrung verschont zu bleiben. Religiöses Sprechen bewegt sich in Gen 22 auf der Grenze, nachzuspielen in frommen Eifer ist da nichts. Vielmehr geht es darum, solche Gotteserfahrungen, von denen Israel erzählt, gelten zu lassen. Ist die Passionsgeschichte nicht genauso extrem? Die Abrahamerzählung, in der nicht nur Abraham, sondern Gott selbst fragwürdig wird, endet mit der Erneuerung des Segens und der Entdeckung eines Kultortes, an dem "Gott sieht". Solche beglückenden Erfahrungen sind nicht einfach da. Sie stehen vielleicht am Ende langer Wege mit vielen Ab-, Um- und Aufbrüchen. Also wieder eine Ostergeschichte.

4) Ex 14,15-15,1: Warum verhärtet Gott das Herz der Ägypter? Um sie dann zu ersäufen?

Ballhorn: Achtet man auf den Wortlaut des Textes, dann tritt – im Hebräischen noch deutlicher als in den Übersetzungen – zutage, dass es an fast keiner Stelle um "die Ägypter" geht, sondern um "Ägypten". Damit ist nicht zuerst eine historische Größe gemeint, sondern im Rahmen dieser Rettungserzählung eine Handlungsfigur: "Ägypten" als Inbegriff einer sich heranwälzenden Todesmacht, einer hochgerüsteten Kriegsmaschinerie, die einen wehrlosen Flüchtlingshaufen ins Meer treiben will, um sich seiner zu entledigen. Vorangegangen war ein langer Verhandlungsmarathon zwischen Mose und dem Pharao. Zwischen den einzelnen Verhandlungsrunden hatten sich die Zehn Ägyptischen Plagen ereignet, Machterweise nicht des Mose, sondern des Gottes Israels. Sehenden Auges hatte der Pharao diese Erfahrungen Stufe um Stufe ignoriert. Erst ab dem sechsten Zeichen spricht die Bibel davon, dass Gott das Herz des Pharao "verhärtet", was man aber auch mit "stark machen" übersetzen kann. Die Aussage ist: Gott kann zuspitzen und konfrontieren, aber der Mensch bleibt frei in seiner Entscheidung.
Und wenn am Ende "Ägypten" von der Flut verschlungen wird, in die es die Israelitinnen und Israeliten treiben wollte, so wird erzählerisch nicht ein Kriegsgegner vernichtet, sondern das Böse, Lebensfeindliche schlechthin. Das ist der Kern dieses österlichen Textes, das feiert auch das Judentum im Pessachfest.

5) Jes 54,5-14: Wann wird diese Verheißung wahr? Ist sie es je geworden?

Steins: Hier wird eine Liebesgeschichte erzählt – mit dem gleichen Überschwang und der gleichen Waghalsigkeit, mit der ein Mensch sein Leben in die Hand eines andern legt und dem anderen seine Hände als Stütze reicht. So wahr ist das! Aus dieser Zusage leben wir, bewegen wir uns und sind wir – um einen etwas jüngeren biblischen Autor zu zitieren.

Ballhorn: Wir haben Glaube und Liebe als Göttliche Tugenden oft vor Augen und vergessen zumeist die Hoffnung. Solange es Unrecht und Tod und Trauer und Leiden gibt, ist die Welt noch nicht, wie sie sein soll – in der Erwartung der Menschen und nach der Verheißung Gottes. Prophetentexte halten unsere Sehnsucht wach und unsere Erwartung an Gott.

6) Jes 55,1-11: Kann man diese Lesung auch vor Menschen lesen, die wirklich durstig sind, also körperlich? Die keinen guten Zugang zu frischem Trinkwasser oder Milch haben? Erinnert sei nur an Bertolt Brechts Spruch "Erst kommt das Fressen, dann die Moral."

Ballhorn: Die Bibel ist das körperlichste Buch, das ich kenne. Menschsein drückt sich in körperlichen Erfahrungen aus, und die Bibel ist ein Buch voller "Körpersprache". In den Psalmen geht es um Leiden und Rettung, um Schmerzen und intensiven Lebensdurst. Die körperlichen Bedürfnisse bilden die Basis des Lebens, davon spricht die Schrift auf jeder Seite. Und auch der heilende Jesus bezeugt das: Er macht gesund an Leib und Seele. Die ganze Bibel ist davon durchzogen, und der gläubige Mensch ist in die Pflicht genommen, für Gerechtigkeit zu sorgen: dass jedem Menschen das gegeben wird, was er zum Leben braucht und was ihm zusteht. Das ist die Idee von Tora.
Der grandiose Text Jes 55 nimmt seinen Ausgangspunkt von diesen Erfahrungen, weiß aber auch, dass es darüber hinaus noch weitere Bedürfnisse gibt: "Wir essen das Brot, aber wir leben vom Glanz" (Hilde Domin). Gott gibt Lebenskraft und macht satt. Ich kenne Menschen, die eine geradezu körperliche Sehnsucht nach der Nähe zu Gott in seinem Wort haben.

7) Bar 3,9ff: (4,4): Wir Christen wissen auch, was Gott gefällt, schließlich hat es Jesus uns erzählt. Aber sind wir deswegen glücklich? Oder anders gefragt: Warum tun wir dann nicht, was Gott gefällt?

Ballhorn: Wir tun nicht, was Gott gefällt, weil es gar nicht so leicht ist, das in den Alltag zu übersetzen. Im Christentum haben wir uns alltagssprachlich angewöhnt, Glauben als "Für-wahr-halten" zu definieren. Das ist jedoch eine kognitive Engführung. Glaube ist eine existenzielle Bindung, die in tägliches Tun übersetzt werden muss. Die Lesung aus dem Buch Baruch stellt heraus: Man muss wach bleiben! Eine Seligpreisung ist ein Lobruf, aber zugleich eine starke Aufforderung: Geh hin, und handle so! Wenn du so lebst, hast du teil an der verwandelten Welt. Es geht um Lebenskunst: als österlicher Mensch leben, als österliche Gesellschaft.

8) Ez 36,16ff: Warum ist Gott so pingelig wegen seines "Namens"?

Steins: Das sind wir doch auch, "pingelig" mit unserem Namen, wenn es um Wichtiges geht! – Die Lesung gibt auf die Frage nach dem Thema des Triduums eine überraschende Antwort: Es geht in diesem "österlichen" Geschehen um die Glaubwürdigkeit Gottes; Ostern ist die Ehrenrettung seines guten Namens. Dazu kommt ein weiterer ungewohnter Gedanke: Der biblische Gott ist zu Reue und Umkehr bereit. Der Gott der Bibel wird gesehen als Teil eines großen welt- und zeitumspannenden Beziehungsdramas. Und zu jeder guten Beziehung gehört die Bereitschaft zur Veränderung, und zwar auf jeder Seite. Wieder das Thema "Transformation"! Ein von griechischer Metaphysik geprägtes Gottesbild tut sich damit schwer, daher braucht es die immer neue Irritation und Provokation durch das "ungezähmte" Gottdenken der Bibel. Ostern meint nichts anderes: Weg mit den Binden! Denkt um!

9) Röm 6,3-11: Tot sein für die Sünde – das heißt ja nicht, dass ich nicht mehr sündige (leider tue ich das immer wieder mal). Was bedeutet der Satz Röm 6,11 dann?

Ballhorn: Ich kann nichts dafür, als Mensch bin ich in Schuldverstrickungen gefangen, die ich nicht verursacht habe, denen ich aber nicht entkommen kann. Ich nehme einen Platz in der Welt ein – und damit nehme ich objektiv anderen etwas weg. Das kann ich von mir aus nicht ändern, auch mit dem heiligsten Leben nicht. Erlösung heißt: Gott gibt mir meinen Platz und den anderen ebenfalls, es ist Raum da für mich und für andere. Alles andere folgt dem nach. Im Alltag kann ich das nicht immer einlösen und mache mich breit, wo es mir nicht zusteht. Die Osterbotschaft lautet jedoch: Mein Leben ist grundsätzlich schon gerettet – auf eine Weise, wie ich es selbst nicht könnte.

Steins: Die deutsche Übersetzung schleift den Text etwas ab. So heißt es in der Lesung wörtlich: "Lebt in der Neuheit des Lebens", das heißt: das Grab ist offen, geht heraus, es ist möglich, anders zu leben.

10) Warum lässt sich Jesus in Mt 28,9 von den Frauen anfassen, von Maria von Magdala im Johannesevangelium (Joh 20,17) aber nicht?

Ballhorn: Wie wir vier Evangelien haben, die die eine Jesusgeschichte aus unterschiedlicher Perspektive erzählen, so gibt es auch ganz unterschiedliche Osterevangelien: Es braucht verschiedene Perspektiven, um die Fülle der Wirklichkeit der Auferstehung in Sprache zu fassen. Gerade existenzielle Kernaussagen können oft nur paradoxal ausgedrückt werden; die Formel von Jesus Christus als wahrem Gott und wahrem Menschen ist das wichtigste Beispiel.
Mir ist beides kostbar und unverzichtbar: Dass der Auferweckte fassbar und greifbar ist, dass Auferstehung nicht nur eine Idee, eine engagierte Wunschprojektion von Jüngerseite ist, sondern den ganzen Menschen umfasst, mit Leib und Seele – und zugleich, dass der österliche Christus sich unserem Zugriff entzieht und dass Auferstehung nicht bedeutet, dass das irdische Leben sich bruchlos fortsetzt. Osterevangelien sind Lehrerzählungen und Anstoß zum Nachdenken über meinen Glauben, der in der Taufe mit der Absage, mit dem Bruch beginnt und den Überstieg ersehnt.

Literaturtipp:
Georg Steins / Egbert Ballhorn, Und es wurde Morgen. Die biblischen Lesungen der Osternacht, Regensburg 2020.

Interviewpartner:
Egbert Ballhorn ist Professor für Exegese und Theologie des Alten Testaments an der TU Dortmund und Vorsitzender des Katholischen Bibelwerks e.V.
Georg Steins ist Professor für Biblische Theologie/Exegese des Alten Testaments an der Universität Osnabrück.


Münsteraner Forum für Theologie und Kirche (MFThK)