29.12.24

"Schiebt die Papistenpfaffen gleich mit ab"

Alle Theologinnen und Theologen sollten sich einmal die 323 Kommentare zahlender Abonnenten (nur diese dürfen kommentieren) unter dem Interview mit Georg Bätzing durchlesen, das "Die Welt" kürzlich auf ihrer Homepage veröffentlichte. Viele dieser Kommentare (die Überschrift ist ein Zitat daraus) lassen eine abgrundtiefe Menschenverachtung erkennen. Dass nichts gelöscht wird und Hass und Hetze einfach freien Lauf gelassen werden, scheint seit langem zum Geschäftsmodell von welt.de zu gehören (vgl. hierzu bereits S. Niggemeier). Kann man als Theologin oder Theologe noch guten Gewissens "Die Welt", die auf ihrer Homepage seit einigen Jahren – und nicht erst seit der Veröffentlichung von Elon Musks Wahlwerbung für die AfD – einen klaren rechtspopulistischen Kurs verfolgt, durch die Gewährung von Interviews oder das Verfassen von Gastbeiträgen unterstützen? Und gibt es an deutschen Hochschulen überhaupt noch eine Medienwissenschaft oder Publizistik, die die Aktivitäten des Springer-Konzerns kritisch analysiert? Auch bei vielen Videos von Welt-TV hat man den Eindruck, dass es hier in erster Linie um politische Propaganda geht. Mehrere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der "Welt" haben sich inzwischen auf Bluesky, Facebook oder X von der Zeitung distanziert.
Der Pfarrerssohn Matthias Kamann, der für die "Welt" häufig über Kirchenthemen schreibt und auch das oben genannte Interview mit Bätzing geführt hat, äußerte sich am 28. Dezember auf Bluesky:
Der heute in der WELT AM SONNTAG und auf welt.de erschienene Text von Musk über die AfD ist analytisch erbärmlich. Vor allem aber wirbt er für eine weithin rechtsextreme Partei, deren Agieren im Gegensatz zu Grundsätzen der rechtsstaatlichen Demokratie und auch der WELT-Redaktion steht.
Der am Lehrstuhl von Holger Zaborowski arbeitende Religionsphilosoph Jörg Phil Friedrich schrieb am 29. Dezember auf Facebook:

Bekanntlich habe ich in den letzten Jahren viel bei WELT veröffentlicht. Folgende Mail habe ich eben an meinen dortigen Ansprechpartner geschrieben: "Es ist sicherlich belanglos, aber ich möchte [...] informieren, dass ich bis auf Weiteres eine Pause mit Text-Angeboten für WELT mache. Es ist mir schon in den letzten Monaten immer schwerer gefallen, mir meine Essays und Meinungs-Stücke in einem Umfeld schlecht argumentierter und kaum durchdachter Texte vorzustellen, die sich an allzu simple Weltbilder anbiedern. Der Abdruck des Textes von Elon Musk incl. der Erwiderung, die Musk bescheinigt 'das größte unternehmerische Genie unserer Zeit' zu sein, die behauptet, 'Voraussetzung für seine spektakulären Erfolge [sei] immer eine radikale Analyse des Status Quo' gewesen und die von 'Musks Diagnose' spricht, die 'korrekt' sei – und das alles vom zukünftigen Chefredakteur, veranlasst mich zu der Entscheidung, erstmal keine weiteren Stücke von mir zur Veröffentlichung vorzuschlagen. Das trotz der Tatsache, dass ich eigentlich immer ein Umfeld suche, in dem meine Stücke nicht einfach auf unkritische Zustimmung stoßen, sondern eher irritieren, zum Nachdenken anregen. Ich meine aber, ein gewisses Selbstverständnis zu journalistischer kritischer Distanz gegenüber denen, die eh schon große Reichweite haben, ist für eine seriöse Medien-Plattform unabdingbar. Da hilft es auch nicht, dass jetzt gut gemeinte Distanzierungen erscheinen, die letztlich nur Feigenblätter für die Anbiederung an intellektuell tieffliegende Populisten sind."

Deniz Yücel (seit 2015 bei der "Welt") nannte am 28. Dezember auf Facebook und X fünf Kollateralschäden des Pro-AfD-Textes. Seine Stellungnahme könnte die Theologie als Appell verstehen, sich endlich mit dem rechtslibertären Denken eines Ulf Poschardt oder einer Anna Schneider auseinanderzusetzen und das Potenzial der Sozialen Medien zur Zerstörung der liberalen Demokratie ernst zu nehmen.

Kollateralschaden I: der Liberalismus. Wer die Grundannahmen der AfD teilt, dieses Sich-Laben an Untergangsphantasien, das ständige "Denk-ich-an-armes-Deutschland-kaputt-schafft-sich-ab", für wen "Zukunft kein Projekt ist, das es zu gestalten gilt, sondern nur noch aus Projektionen besteht" (Ivan Krastev jüngst in der "Welt"), wer sich von Ängsten treiben lässt, landet, ob er will oder nicht, irgendwann bei der AfD. Es gibt keine AfD ohne die AfD. Wut ist nicht liberal.
Kollateralschaden II: der Patriotismus: Früher sprang man hierzulande im Dreieck, wenn irgendwelche Griechen oder Polen gewagt hatten, Angela Merkel ein Hitlerbärtchen anzukleben. Ganz gleich, ob man sie mochte oder nicht – ein Angriff aus dem Ausland auf die deutsche Bundeskanzlerin war ein Angriff auf die nationale Souveränität; sie zu verteidigen war ein Gebot des Patriotismus. Heute quietschen deutsche Patrioten vor Wonne, wenn irgendein amerikanischer Internet-Hugenberg mit ADHS-Syndrom öffentlich den deutschen Bundeskanzler ankoffert. Der russische Präsident ist ihnen eh näher als der deutsche. Und das einzige, dass ihre versteinerten Herzen kurzzeitig erwärmen lässt, sind Nachrichten, die ihre dystopischen Überzeugungen zu bestätigen scheinen: jede Messerattacke eines Flüchtlings, jede Entlassungswelle bei einem Dax-Konzern, jede Pleite der deutschen Nationalelf – Deutschland geht's schlecht, ich habe recht, das Leben ist manchmal doch schön. Mit Vaterlandsverrat im Namen des Internationalismus, für den die Linke in ihren besten Momenten stand, hat das nichts zu tun, auch nicht viel mit dem reaktionären Nationalismus, über den Heinrich dichtete: "Fatal ist mir das Lumpenpack, / das, um die Herzen zu rühren, / den Patriotismus trägt zur Schau, mit allen seinen Geschwüren." Organisierte Niedertracht, die weder patriotisch ist noch konservativ.
Kollateralschaden III: die Vernunft. Wenn sie mit dieser Nummer nicht so leicht durchkämen – im ärgsten Fall sogar bei einer Präsidentenwahl in den USA –, wären sie schreiend komisch: jene Angehörige der Eliten, die meinen, ihre Klassenzugehörigkeit per bloßem Sprechakt abstreifen zu können und mit verwegener Rebellengeste gegen "Eliten" und "Establishment" wettern und twittern. Was nach einer originellen Interpretation des Selbstbestimmungsgesetzes klingt, ebenfalls nach einer Welt aus Willen und Vorstellung und damit nach einer Anleihe aus der in diesen Kreisen so verhassten "Woke-Ideologie", ist zugleich ein Phänomen, das schon die antiken Demokratien kannten: Demagogen aus der Elite, die sich krachledernd volksnah geben mit Hilfe aufgepeitschter Massen an die Macht streben und sich dafür als erstes die Vernunft vorknöpfen.
Kollateralschaden IV: der Journalismus. Ein Journalismus, dem die Erweiterung der Öffentlichkeit durch die sozialen Medien suspekt ist, zeigt nicht nur Standesdünkel, sondern hat auch ein Problem mit der Demokratie. Ein Journalismus, der andererseits das Potenzial zur Zerstörung der Öffentlichkeit durch die sozialen Medien abfeiert und sich ans digitale Dauerrummeinen heranwanzt, hat sich bereits aufgegeben.
Kollateralschaden V: die Redaktion.


Münsteraner Forum für Theologie und Kirche (MFThK)