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Literaturnobelpreis für Annie Ernaux

Die Religion gab dem Leben einen offiziellen Rahmen und rhythmisierte das Jahr. Die Zeitungen druckten Rezepte für die Fastenzeit, und im Postkalender konnte man den Ablauf verfolgen, vom Sonntag Septuagesimae bis Ostern. Freitags kam kein Fleisch auf den Tisch. Die Sonntagsmesse bot Gelegenheit, sich herauszuputzen, ein neues Kleidungsstück vorzuführen, Hut, Handtasche und Handschuhe zu tragen, zu sehen und gesehen zu werden und die Messdiener mit den Augen zu verfolgen. Sie war der äußere Beweis einer Moral und die Gewissheit eines Schicksals, das in einer ganz bestimmten Sprache, Latein, verfasst war. Indem man jede Woche dieselben Gebete aufsagte und die rituelle Langeweile der Predigt ertrug, tat man Buße für den anschließenden Genuss, Brathähnchen essen, Kuchen vom Bäcker holen, ins Kino gehen. Dass die Lehrer und andere Gebildete mit einwandfreiem Lebenswandel nicht an Gott glaubten, war eine Anomalie. Die Religion allein begründete die Moral, sie verlieh dem Menschen die Würde, die ihn vom Tier unterschied. Der Kirchenkodex stand über allem, die großen Momente des Lebens erhielten nur durch ihn ihre Legitimation: "Wer nicht in der Kirche heiratet, ist nicht richtig verheiratet", hieß es im Katechismus. Es galt nur die katholische Religion, alle anderen Religionen waren falsch oder wurden nicht ernst genommen. [...] Man wartete ungeduldig auf die heilige Kommunion, den glorreichen Auftakt für alles Wichtige, was noch kommen würde, die erste Monatsregel, der Volksschulabschluss, der Wechsel auf die höhere Schule. In den Kirchenbänken, getrennt durch den Mittelgang, saßen auf der einen Seite Jungen im dunklen Anzug mit einer weißen Binde am Arm und auf der anderen Seite Mädchen im langen weißen Kleid mit Schleier, sie sahen schon jetzt aus wie die Brautleute, die zehn Jahre später paarweise vor den Altar treten würden. Nachdem man bei der Kommunion im Chor verkündet hatte, "ich entsage dem Teufel und übergebe mich Jesu für alle Ewigkeit", konnte man auf eine Ausübung der Religion verzichten, man war zum Christen erhoben und verfügte über das nötige Rüstzeug, um sich der Mehrheitskultur zugehörig zu fühlen, man durfte sicher sein, "dass es ein Leben nach dem Tod gab". Man wusste genau, was sich gehörte und was nicht, was gut war und was böse, man las es in den Blicken der anderen.
Quelle: Annie Ernaux, Die Jahre. Berlin 2019.

Der Katholizismus verschwand aus dem Alltag. In den Familien wurden Bibelkenntnisse und die religiösen Bräuche nicht mehr überliefert. Man benötigte die Religion nicht mehr, um die eigene Rechtschaffenheit unter Beweis zu stellen, und so blieb außer ein paar Ritualen nichts von ihr übrig. Als hätte sie nach all den Jahrhunderten ausgedient, als wäre sie durch Milliarden von Gebeten, Messen und Prozessionen aufgebraucht. Lässliche und Todsünden, die Gebote Gottes und die der Kirche, Gnade und die Kardinaltugenden waren Begriffe, die niemand mehr verstand, Ausdruck einer überholten Denkweise. Die sexuelle Befreiung hatte Wollust, Nonnenwitze und schmutzige Lieder wie das vom Pfarrer aus Camaret aus der Mode kommen lassen. Die Kirche versetzte Pubertierende nicht mehr in Angst und Schrecken, sie hatte keine Kontrolle mehr darüber, wann und mit wem die Leute Sex hatten, sie bestimmte nicht mehr über den Bauch der Frauen. Indem sie ihre Hauptbeschäftigung verlor, den Sex, verlor sie alles. Außerhalb des Philosophieunterrichts konnte man nicht mehr ernsthaft über Gott und den Glauben diskutieren, man fand die Vorstellung geradezu absurd. Ein Schüler schnitzte in seinen Tisch: "Gott existiert, und ich bin voll reingelatscht." Daran änderte auch die Beliebtheit des neuen polnischen Papstes nichts. Er war ein Held, ein Kämpfer für Freiheit nach westlichem Vorbild, ein Lech Walesa der Weltpolitik. Sein osteuropäischer Akzent, seine weiße Soutane, sein "Habt keine Angst!", und die Tatsache, dass er die Erde küsste, sobald er irgendwo aus dem Flugzeug stieg, gehörten zur Show, so wie Madonna bei einem Konzert ihren Slip ins Publikum warf.
Quelle: Annie Ernaux, Die Jahre. Berlin 2019.

Das Leben der meisten Menschen im Frankreich meiner Kindheit spielte sich in einem Umkreis von fünfzig Kilometern ab. Wenn die Gemeinde in der Kirche "Segne du Maria, segne mich dein Kind / Dass ich hier den Frieden, dort den Himmel find!" anstimmte, wusste jeder, dass "hier" die Kleinstadt bezeichnete, in der man lebte, vielleicht noch das Departement. Die Fremde begann in der nächstgrößeren Stadt. Der Rest der Welt war unwirklich.
Quelle: Annie Ernaux, Die Jahre. Berlin 2019.

Die katholische Privatschule, in der ich die meiste Zeit verbrachte, folgt der Zeitrechnung des Messbuchs und des Evangeliums, die auch das Thema des täglichen Religionsunterrichts vor dem Diktat bestimmt: Adventszeit, Weihnachtszeit – in unserem Klassenraum steht bis Mariä Lichtmess eine Krippe mit kleinen Statuen vor dem Fenster –, Fastenzeit, unterteilt durch die Fastensonntage Invocabit, Reminiscere etc., Osterzeit, Christi Himmelfahrt, Pfingsten. Jahr für Jahr lässt uns die katholische Schule jeden Tag aufs Neue dieselbe Geschichte erleben, sodass uns unsichtbare und allgegenwärtige Figuren, weder tot noch lebendig, die Engel, die heilige Jungfrau Maria, das Jesuskind, wohlvertraut sind und wir ihr Leben besser kennen als das unsrer eigenen Großeltern.
(Ich kann die Regeln dieser Welt nur im Präsens benennen und beschreiben, als wären sie weiter so unabänderlich, wie sie es mit zwölf für mich gewesen sind. Je tiefer ich mich in diese Welt hineinbegebe, desto erschreckender finde ich ihre Macht und Kohärenz. Damals muss ich allerdings ganz selbstverständlich in ihr gelebt und mir keine andere gewünscht haben. Denn ihre Gesetze offenbarten sich nicht im Geruch nach Essen und Bohnerwachs, der im Treppenhaus hing, im Pausenlärm oder in der Stille, die nur von den Tonleitern einer Einzelstunde am Klavier unterbrochen wurde. Und ich muss mir eingestehen: Nichts kann ungeschehen machen, dass der Glaube an Gott bis zur Jugend für mich die einzige Normalität gewesen ist, die katholische Religion die einzige Wahrheit. Ich kann "Das Sein und das Nichts" von Sartre lesen und mich darüber amüsieren, dass Johannes Paul II. in "Charlie Hebdo" die "polnische Tunte" genannt wird, aber ich kann nicht ändern, dass ich 1952 davon überzeugt war, seit der Erstkommunion im Zustand der Todsünde zu leben, weil ich die Hostie, die an meinem Gaumen kleben geblieben war, vor dem Hinunterschlucken mit der Zungenspitze zerbrochen hatte. Ich war fest davon überzeugt, das, was für mich der Leib Christi war, zerstört und geschändet zu haben. Die Religion war meine Lebensform. Zwischen dem Glauben und dem Zwang zum Glauben gab es keinen Unterschied.)
Wir befinden uns in einer Welt der Wahrheit, der Vollkommenheit, des Lichts. In der anderen Welt, der des Irrtums, geht man nicht zur Messe, betet man nicht, und der Name dieser Welt wird nur selten ausgesprochen, mit schneidender Stimme, wie eine Gotteslästerung: die laizistische Schule. ("Laizistisch" hatte für mich damals keine präzise Bedeutung, es war ein vages Synonym für "schlecht".) In unserer Welt tut man alles dafür, sich von der anderen Welt abzusetzen.
Quelle: Annie Ernaux, Die Scham. Berlin 2020.

An einem Nachmittag betrat ich eine Kirche, Saint-Patrice, in der Nähe des Boulevard de la Marne, um einem Priester zu beichten, dass ich abgetrieben hatte. Sofort bemerkte ich meinen Fehler. Ich fühlte mich erhaben, für ihn war ich eine Verbrecherin. Als ich wieder hinausging, wusste ich, dass die Zeit der Religion für mich vorbei war.
Quelle: Annie Ernaux, Das Ereignis. Berlin 2021.


Münsteraner Forum für Theologie und Kirche (MFThK)