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Die Neuübersetzung des Romans "Sodom und Berlin" von Yvan Goll (1929)

Vorstellung des Buches auf der Webseite des Verlags

"Für die kommenden Jahre sehe ich eine außerordentliche mystische Krise voraus. Gesellschaftliche Wirren und eine wirtschaftliche Flaute werden die Nation um ihren gesunden Menschenverstand bringen. Ähnlich wie um das Jahr 1000 wird das Land von einem Fieber erfasst werden. Verzweiflung und Ekstase werden auf seinem Gewissen reiten. Alle bisherigen Werte werden an Kurs verlieren; man wird nach anderen suchen, um sie zu ersetzen, und in der Hast wird man Straßenlaternen für Sterne halten. Der Tanz hat schon begonnen. Spengler verkündet den Untergang des Abendlandes. Dichter rufen den Tod der Kunst aus. Einstein verurteilt alles dazu, relativ zu sein. Alles ehemals Wahre ist nun falsch. Die alte Welt stürzt in sich zusammen!"

Die Vertreter der verschiedenen Sekten bekämpften sich – ohne einander je begegnet zu sein – im Alltag erbittert. Alle sprachen von einem Ideal, von Freiheit, von Gott, doch jeder wollte der Menschheit die eine, selbst ersonnene Formel aufdrängen. All diese Sektenführer und Gruppenvorsteher, die es gewohnt waren, von der kleinen Schar der Jünger, die sie für ihre Sache hatten gewinnen können, verehrt, ja vergöttert zu werden, waren verärgert, bei ihresgleichen auf Widerstand zu stoßen. Rasch erwies sich, dass es noch keinem von ihnen gelungen war, die Laster des Ehrgeizes und der Anmaßung aus seinem Herzen zu reißen. All diese neuen laizistischen Apostel waren noch fanatischer als die Kirchenfunktionäre, die sie angeblich ersetzen wollten.

"Ich bin der wiederauferstandene Jesus. In Bonn war mir das noch nicht klar. Aber auf dem Weg der Gnade war ich schon. Erkannt hat mich eine alte Tirolerin, als ich auf dem Rückweg von der Isonzo-Schlacht war, noch ganz benommen von einem furchtbaren Bombenhagel. Mir war der Bart gewachsen, und als die arme Alte mich sah, bekreuzigte sie sich und fiel auf die Knie, dabei hatte sie seit fünfzehn Jahren ein lahmes Bein. Und ich selbst erkannte mich an den Antworten, die ich ihr gab. Mein ganzes Wesen war nur noch Milde und Liebe. Ich warf mein Gewehr weg und lief in die Berge. Die Behörden wollten mich verhaften, doch wegen meines Einflusses auf die Bevölkerung wagten sie das nicht. Unter dem Vorwand, ich sei ein Verrückter, ließ man mich laufen. Aber gibt es einen einzigen Gott auf Erden, der nicht als verrückt galt? Zweiter Beweis also! Ich bin durch ganz Österreich gezogen, durch Böhmen, Sachsen, und überall hat man mich für einen Gott gehalten. Warum zwinkerst du? Dritter Beweis: Warum sollte Jesus, wo er doch allmächtig ist, nur einmal wiederauferstehen? Warum nicht dreimal? Warum nicht jedes Jahrhundert? Oder sogar jeden Tag, schließlich wird er jeden Tag aufs Neue gekreuzigt? Die Zeiten haben sich nicht geändert. Am meisten verleugnet und wieder und wieder gekreuzigt werde ich von meinen Nächsten, meinen Brüdern, von der Kirche und dem Papst! Meine Jünger haben mein Gesetz der Liebe falsch dargestellt. Deshalb muss ich wieder von ganz vorne anfangen. Lassen wir jeden Stolz und jeden Machtgedanken beiseite. Dem ärmsten und am meisten erniedrigten Land, dem ausgemergelten, geschwächten Deutschland, bringe ich die Gnade der großen Idee, durch die die Menschheit errettet wird: ein ursprüngliches Christentum, einen menschlichen Kommunismus, eine soziale Liebe. Zwischen unseren von der Arbeit schwieligen Händen wird das Herz wieder erblühen wie eine Rose. Ich verkünde die Diktatur der Liebe!"

Auch wenn alle von Realpolitik reden, steckt in jedem Deutschen ein Metaphysiker und ein Träumer. Jeder Schulmeister, jeder General, jeder Friseur verspürt das Bedürfnis, seinen Beruf auf ein Podest zu heben, ob das nun Vaterlandsliebe, Fortschritt der Menschheit oder Suche nach dem Absoluten heißt. Das deutsche Denken ist spekulativ. Selbst als unbarmherziger Krieger oder gieriger Händler redet der Deutsche sich ein, er strebe nach einem Ideal. Eine recht naive Vorstellung im Grunde, und mit der Haltung von Menschenfressern zu vergleichen, die sich einbilden, sie müssten ihren Nächsten aufessen, um einer Gottheit zu gehorchen. Der Deutsche macht sich jede neue Idee zu eigen, wenn sie nur in hochgestochene Philosophie oder obskure Metaphysik verpackt wird.


Münsteraner Forum für Theologie und Kirche (MFThK)