Das Narrativ der 'Jüdischen Weltverschwörung' von seinen literarischen Ursprüngen bis heute
Von Julian Timm

Eine kleine Irritation
Julian Timm hat eine literaturwissenschaftliche Dissertation über das Narrativ der "Jüdischen Weltverschwörung" beim Schriftsteller Hermann Goedsche geschrieben. An keiner Stelle der Dissertation erfährt man etwas über den konfessionellen und religionspolitischen Hintergrund von Goedsche. War dieser für einen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts irrelevant? Spielte er bei der Rezeption seiner Werke keine Rolle? Anzunehmen ist, dass seine Retcliffe-Romane im Katholizismus des 19. Jahrhunderts wegen ihrer antikatholischen und antijesuitischen Tendenzen auf schroffe Ablehnung stießen. "Kirche und Jesuiten waren in seinen bandwurmartigen Riesenroman 'Biarritz' das besondere Objekt seiner Verleumdungen. Während der Kulturkampfjahre war er der erlesene Liebling der Berliner Lesewelt", schrieb Johannes B. Kissling in seiner "Geschichte des Kulturkampfes im Deutschen Reiche". Seine Verleumdungen der Jesuiten seien "weit schärfer und viel häufiger" als die der Juden, urteilte später Hermann L. Strack. Nach einem längeren Zitat aus "Biarritz" als Beleg für das Narrativ der "Lügenpresse" stellt Timm fest: "Das Schlagwort 'Lügenpresse' war schon in konservativ-katholischen und meist zugleich antisemitischen Kreisen zur Zeit der Retcliffe-Romane gebräuchlich." Es irritiert, dass Timm hier den Protagonisten seiner Dissertation "konservativ-katholischen Kreisen" zuordnet oder zumindest den Eindruck erweckt, Goedsche habe eine Verbindung zu konservativ-katholischen Kreisen gehabt. Hermann Goedsche arbeitete als Redakteur für die konservativ-protestantische "Kreuzzeitung" und das Schlagwort von der "Lügenpresse" findet sich im 19. Jahrhundert auch im konservativ-protestantischen sowie sozialdemokratischen Lager. Der katholische Priester Johannes Stanjek, Chefredakteur der "Abwehrblätter", der Zeitschrift des "Vereins zur Abwehr des Antisemitismus", dessen Vergessenheit im Berliner Katholizismus der Gegenwart mehr als bedauerlich ist, hat noch 1928 in seinem Artikel "Polizeispitzel und Judenhetzer" mit Hermann Goedsche abgerechnet.


Münsteraner Forum für Theologie und Kirche (MFThK)