Katholikentag in München 1922

Wer in Arnold Angenendts Vorlesung "Kirchengeschichte der Neuzeit" an der Universität Münster aufgepasst oder mal ein Buch über den deutschen Katholizismus im 20. Jahrhundert gelesen hat, kennt natürlich den offenen Schlagabtausch zwischen dem Katholikentagspräsidenten Konrad Adenauer und dem Münchener Erzbischof Kardinal Faulhaber auf dem Münchener Katholikentag 1922. In seiner Eröffnungsrede am 27. August 1922 verurteilte Kardinal Faulhaber die Revolution von 1918, die Wegbereiterin in die Weimarer Republik, scharf. Man konnte seine Rede auch als eine Ablehnung der neuen Staatsform der Demokratie verstehen. In seiner Schlussansprache am 30. August konterte Adenauer mit einem Bekenntnis zur Republik – unter Berufung auf den Vortrag des Münsteraner Theologieprofessors Joseph Mausbach über "Christliche Staatsordnung und Staatsgesinnung", den dieser am selben Tag auf dem Katholikentag gehalten hatte. Da diese Ansprache Mausbachs vom 30. August 1922 viel weniger bekannt ist als die Schlussansprache Adenauers, die hier nachzulesen ist, seien die wesentlichen Passagen an dieser Stelle veröffentlicht.

Joseph Mausbach: Christliche Staatsordnung und Staatsgesinnung

Verehrte Anwesende, die Staatsordnung und Staatsgesinnung ist seit ältester Zeit ein wichtiger Teil aller sittlichen Theorie und Volksbelehrung. Die großen Meister der Antike, Plato und Aristoteles, die Apostel Petrus und Paulus, die Kirchenlehrer Augustinus und Thomas, sie alle halten die rechten Grundsätze über den Staat für eine wichtige und heilige Sache. Der Staat als solcher ist nicht ein Erzeugnis des Bösen, auch nicht Produkt des Zufalls oder roher Gewalt, sondern Anordnung und Stiftung Gottes. Der Schöpfer selbst hat der menschlichen Natur den Gesellschaftstrieb eingesenkt, die Notwendigkeit, sich zu großen Lebens- und Arbeitsgemeinschaften auszuwachsen, zu Stämmen, Völkern und Menschheitsgruppen. Diese bedürfen zum dauerhaften Bestande und fruchtbaren Wirken einer festen Ordnung, einer machtvollen Schutzwehr nach außen wie einer einheitlichen Führung und Gesetzgebung im Innern; beides verleiht ihnen der Staat.
Diese naturrechtliche Idee vom Staate sagt uns aber nichts über die Abgrenzung und die Verfassung der Einzelstaaten; jene Idee ist eine allgemeine, rechtlich-soziale Norm, die erst in der Geschichte ihre mannigfaltige Ausprägung findet. Wie der einzelne Mensch im sittlichen und wirtschaftlichen Handeln einem allgemeinen Gottesgebot untersteht und dennoch mit Freiheit sich die Wege zum irdischen Lebensglück wählt, wie jene Vorschrift "Wachset und mehret euch" in der Ehe eine allgemeine naturrechtliche Grundlage gewinnt und doch die einzelne Gattenwahl der persönlichen Freiheit überlässt, ebenso hat Gott das Grundgesetz des Staatslebens dauernd und einheitlich festgelegt, aber die Entstehung und Rechtsform der Einzelstaaten der geschichtlichen Entwicklung und freien Entschließung anheimgegeben. Auch die positive Offenbarung Gottes und die Lehre der Kirche hat keiner bestimmten Verfassung den Vorrang zuerkannt, vielmehr zu allen Zeiten die Möglichkeit verschiedener Staatsformen offen gelassen.
So sind die Verfassungen der Staaten tatsächlich auf Erden verschieden, so gibt es auch für die Staatsgewalt, das heißt für die oberste Autorität und gebietende Macht im Staate verschiedene Träger und Inhaber. Doch auch hierbei besteht trotz formeller Verschiedenheit eine Einheitlichkeit und Gleichartigkeit im Wesen. Trotz jener verschiedenen Träger ist die Staatsgewalt im Grunde überall dieselbe; stammt sie doch nach christlicher Auffassung nicht von unten, aus dem wechselnden Bedürfnis der Zeiten, aus der Willkür der Massen oder der Mächtigen, sondern aus Gott.
Die Staatsgewalt dient den höchsten Lebenszwecken, die Gott der Menschheit gesetzt, der Ruhe und dem Frieden der Gesellschaft, der öffentlichen Zucht und Ordnung; sie dient diesen Zwecken auch dann, wenn ungläubige Staatshäupter nichts davon ahnen. So sagt denn mit Recht die spätere kirchliche Wissenschaft: Alle wertschaffende Arbeit, auch die apostolische Arbeit, alle Kulturtätigkeit, auch der Gottesdienst und die Liebestätigkeit der Kirche, sie können nur gedeihen, wo Recht und Sicherheit herrscht, wo äußerer und innerer Friede waltet. Das Gesamtwohl des Volkes ist der höchste und innerste Lebenszweck des Staates: "Salus populi suprema lex!"
Diese Höchststellung des öffentlichen Wohles ist für den christlichen Staatsgedanken besonders seit Thomas von Aquin unbestritten; auch Leo XIll. betont sie immer wieder und leitet aus ihr die eigentliche Staatsgewalt ab: "Das Gesamtwohl ... ist das schöpferische Prinzip und das erhaltende Element in der menschlichen Gesellschaft; daraus folgt, dass alle wahren Staatsbürger es um jeden Preis wollen und fördern müssen. Ja, aus dieser Notwendigkeit, das Gemeinwohl zu sichern, fließt wie aus der eigentlichen und unmittelbaren Quelle die Notwendigkeit einer bürgerlichen Gewalt, die sich selbst auf das höchste Ziel einzustellen und das vielfältige Wollen der Untertanen weise und standhaft zu ihm hinzuordnen hat."
Die christliche Staatsidee zieht aber auch der Macht des Staates eine deutliche Schranke: Die Staatsgewalt ist "Gottes Dienerin", nicht Gott gleich; sie ist "Gottes Dienerin zum Guten", nicht zum Bösen! Dem vollen, tiefen "Ja" der christlichen Staatsidee steht ein ebenso starkes, unerbittliches Nein gegenüber. De Christen der ersten Zeit rühmen sich als die treusten Staatsbürger, aber sie bekannten auch laut den Grundsatz: "Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen!"
Aus dieser festen Grundstellung heraus hat die christliche Staatslehre im 18. Jahrhundert die große Irrung und Täuschung Rousseaus zurückgewiesen, im 19. Jahrhundert die offene Vergötterung des Staates durch Hegel bekämpft; von dieser Stellung aus lehnen wir heute ebenso nachdrücklich die auf materialistischer Basis errichtete Staatskonstruktion des Sozialismus und Kommunismus als verhängnisvollen Widerspruch zur christlichen Staatsidee und echter Bürgerfreiheit ab.
Als wichtige Folgerung ergibt sich aus der christlichen Staatsordnung die Unerlaubtheit der Revolution, das heißt der gewaltsamen Störung und Umwälzung der verfassungsmäßigen Ordnung. Im weiteren Sinne gehört hierher neben der Auflehnung des Volkes gegen die Staatsgewalt auch die Unterdrückung der Volksrechte durch die Obrigkeit, die sogenannte Revolution von oben. In beiden Vergehen setzt sich die physische Gewalt, der nackte Wille zur Macht, an die Stelle des Rechtes, der sittlichen Ordnung. Ein solcher Gewaltakt kann, auch wenn er siegreich ist, nicht Unrecht in Recht verwandeln.
Und wie stellt sich dieser Grundsatz zu der Tatsache, dass doch so viele Staatswesen in älterer und neuerer Zeit durch Revolution oder Rechtsbruch hindurchgegangen sind, und dennoch bald nachher vom Völkerrecht anerkannt, ja auch von der Kirche wie rechtmäßige Staatsgebilde behandelt worden sind? Auf diese Frage antwortet Leo XIII. durch zwei bedeutsame Rundschreiben des Jahres 1892, in denen er die Bischöfe und die Katholiken Frankreichs auffordert, sich "ohne Hintergedanken und mit voller Loyalität" der Republik anzuschließen. Er weist darauf hin, dass die von Gott dem Staate gegebene Gewalt nicht zugleich einen ewigen, unveränderlichen Bestand der historischen und positiven Rechtsformen garantiert; er weist hin auf die geschichtlichen Änderungen, die sich in Frankreich seit 100 Jahren vollzogen hatten, und fährt dann fort: "Solche Änderungen sind keineswegs in ihrem Anfang immer rechtmäßig, ja es hält schwer, dass sie es seien. Dennoch bewirkt der höchste Gesichtspunkt des Gemeinwohles und der öffentlichen Ruhe die Pflicht, die neue, im Besitzstande befindliche Regierung anzuerkennen, anstatt der alten, tatsächlich nicht mehr vorhandenen."
Es ist nicht meine Ausgabe, die genannten Grundsätze christlicher Staatsauffassung des näheren auf die heutige Lage unseres Vaterlandes anzuwenden; jede Politik soll meiner heutigen Rede, die allein auf das Ethische zielt, fernbleiben. Aber weil wir Katholiken im Sittlichen so einig und geschlossen sind, bedeuten wir auch tatsächlich eine Macht der Einigung für die heutige Zerrissenheit unseres Volkes. Und weil diese großartige Tagung uns aus der Fülle katholischen Glaubens und Lebens heraus in allen guten Vorsätzen für die sittliche Erneuerung der Zeit bestärken will, dürfen und sollen wir uns heute auch fragen, welche praktischen Folgerungen wir aus den vorgetragenen Grundsätzen für unsere Staatsgesinnung zu ziehen haben.
Das Erste und Elementarste, das wir von uns selbst fordern, ist ein lebendiges Interesse am Staat im allgemeinen. Jeder von uns muss sich die innere Anteilnahme am Staatsleben bewahren – trotz so vieler Eindrücke, die den politischen Sinn abzustumpfen geeignet sind. Wir Deutschen sind von Natur unpolitischer angelegt als andere Nationen; und die furchtbaren Enttäuschungen, die wir durchgemacht, haben in vielen das letzte Fünkchen der Teilnahme am öffentlichen Leben erstickt. War das früher schon ein Fehler, so wäre es sündhaft und verhängnisvoll bei der heutigen demokratischen Staatsform. Demokratie ist undenkbar, Demokratie wird notwendig zum reinen Zerrbild, wenn die Tüchtigen, die gewissenhaften Männer und Frauen sich vom Staatsleben zurückziehen und in private Sorgen einspinnen. Wir können aus dem entsetzlichen Zusammenbruch nicht wieder emporkommen, wenn nicht alle Einzelnen als lebendige, gesunde Zellen im Organismus sich für das Ganze einsetzen und verantwortlich fühlen. Heute stehen wir Deutsche unter starker Versuchung, die Stellung zum Staate von leidenschaftlichem Empfinden beherrschen zu lassen. Die Hochspannung der patriotischen Gefühle im Kriege, die darauf einsetzende Trauer und Verzweiflung haben allzu tief die Volksseele erschüttert. Um so notwendiger ist es, dass wir uns zu nüchterner, unbestechlicher Rechtlichkeit im Urteilen und Handeln zwingen, dass wir auch bei allen Fehlschlägen unserer Hoffnung niemals den Kopf verlieren. Wir müssen die raue Wirklichkeit sehen und nehmen wie sie ist; wir können sie nicht meistern mit Gewalttaten, Kraftworten und Hurrarufen, auch nicht mit leeren Wünschen und Wehklagen, sondern nur durch eiserne Pflichterfüllung nach den Grundsätzen christlicher Staatstreue. Dies gilt vor allem der Jugend von heute; ihr liegt es besonders nahe, das Politische vom Standpunkte romantischer Neigung zu beurteilen. Aber wie oft muss die eherne Pflicht in allen Dingen der Sprache, der Neigung und Schwärmerei entgegentreten! Trotz allem, was niederdrückend wirkt auf Ihren Jugendmut, rufe ich Ihnen zu: Verzweifeln Sie nicht an der Gegenwart, urteilen Sie nicht nach vorschneller Empfindung, lassen Sie sich nicht in den Schmollwinkel drängen.

Zur Denunziation Mausbachs durch antimoderne Katholiken in Rom vgl. Jan Dirk Busemann, Katholische Laienemanzipation und römische Reaktion. Die Indexkongregation im Literatur-, Gewerkschafts- und Zentrumsstreit. Paderborn 2017.


Münsteraner Forum für Theologie und Kirche (MFThK)