Literaturnobelpreis für László Krasznahorkai
In László Krasznahorkais Roman "Herscht 07769" spielt die Musik von Johann Sebastian Bach eine zentrale Rolle. Der Roman spielt in der fiktiven thüringischen Stadt Kana. Die Hauptfigur Florian Herscht lebt in einer Welt, die aus den Fugen geraten ist. In seiner Verzweiflung schreibt er Briefe an Angela Merkel. Er hofft, dass die Bundeskanzlerin und Verhandlungen des Sicherheitsrates die drohende Katastrophe noch abwenden können. In einem seiner Briefe an Merkel schreibt er:
Er könne zwar nicht behaupten, dass er sämtliche Meisterwerke der Musikliteratur kenne, noch nicht einmal, dass er sich auskenne, denn offen gesagt kenne er außer dem Bach gar niemanden, vor Bach sei er taub gewesen und nach Bach taub für alles andere geworden, er müsse zugeben, dass ihm keinerlei Musik fehle, die nicht Johann Sebastian Bach geschaffen habe, ihm habe diese Begegnung das Erlebnis gewährt, das einen in der Nähe von Größe ergreift, und ihn habe Bach ergriffen, ihn habe ein Genie ergriffen, und er empfinde es einfach als überflüssig, auch in andere Musik hineinzuhören, für ihn sei Bach eigentlich auch gar keine Musik, sondern das Paradies, und er sei sich sicher, dass die Kanzlerin das und gerade das genauso verstehe wie alles, was er früher geschrieben habe, er sei übrigens nicht religiös, deshalb habe er das Paradies nicht so gemeint, das gebe er zu, auch wenn er wisse, dass die Kanzlerin es so verstehe, doch sie solle es ihm verzeihen, er habe in seiner Kindheit keine Möglichkeit gehabt, zur Religion irgendeine Beziehung aufzubauen, und als er erwachsen geworden und hierher nach Kana gebracht worden sei, habe er wieder keine Gelegenheit gehabt, der Religion näher zu kommen, doch jetzt sei er Bach näher gekommen, und das bedeute, dass er auch jeder Religion näher gekommen sei, zumindest denen, in denen es einen Gott gibt, doch das sei auch egal, denn nun sei es nötig, dass der Kanzlerin klar vor Augen stehe, warum es unter allen Umständen nötig ist, Bach in die Verhandlungen mit einzubeziehen, von denen er annehme, dass sie im Gang sind, nur erst noch hinter verschlossenen Türen, im Übrigen könne er es kaum noch erwarten, auf dem Sitzungskalender des Sicherheitsrats zu entdecken, wann die Verhandlungen auch öffentlich werden, doch jetzt wolle er nicht darüber schreiben, sondern die Bach-Frage in den Vordergrund stellen, das heißt, warum er der Meinung sei, dass Bachs ständig und auf ewig zu hörendes Lebenswerk, das Reich, das in Bachs Musik nicht nur zu hören, sondern auch zu erfahren ist, ein reales Reich ist, was vollkommen der Ansicht widerspricht, die keinerlei derartiges Reich anerkennt, ja, negiert, dass ein solches existiert, aber es existiert, und es berge in sich auch die Welt, in der es ihnen vergönnt sei zu leben, zusammen mit den Pflanzen, den Tieren und den anorganischen Elementen und jedem Ereignis, dessen Existenz der menschliche Verstand als einzigartig anerkennt, und woher er das wisse?, fragte Florian in der Küche über das Blatt gebeugt, dass nämlich das Universum viel weiter sei?, und dieses Wort werde er sofort präzisieren, viel weiter als das, was der menschliche Verstand als existierend annehme?, nun, daher!!!, ersetze durch: gerade Bach habe ihm das gezeigt und zeige es jedem und zeige es in jedem einzelnen Bruchteil der im alltäglichen Sinn verstandenen Zeit, nun, daher nehme er das, denn wenn man Bach hört, dann spürt man das Reich, darauf sei er gekommen, aber das sei nur das Erste, was er schreiben wolle, das Zweite sei, dass, insofern es so sei, und es sei so, das Universum dann eine ungleich, aber ungleich ... gar nicht größere, gar nicht weitere, sondern, und jetzt präzisiere er!, ... reichere Ganzheit sei, die nur für eine andere, eine verglichen mit der wissenschaftlichen Sicht radikal andere Anschauung fassbar werde, und das sei kein unwissenschaftliches oder wissenschaftsfeindliches, also kein mystisches oder transzendentes oder sonstiges dummes Hirngespinst, sondern das Bild der Wirklichkeit in einer anderen Anschauung, nur haben wir die Struktur, die Logik dieser Wirklichkeit noch nicht vor Augen, wir können noch nicht wissen, was das ist, was dort an Stelle des Systems von Ursache und Wirkung tritt, und das sei es, was er hier sagen wolle,
seiner Meinung nach müsse man in der Entscheidung des Sicherheitsrats berücksichtigen, dass die Sorge um das jederzeit mögliche Eintreten der Katastrophe berechtigt sei, gleichzeitig jedoch im entsetzlichen Schatten dieser totalen Katastrophe die von uns wahrgenommene Erfahrungswelt vom Reich aus betrachtet nur eine Vorstellung ist, eine bloße Vorstellung dessen, Frau Kanzlerin, wie die Wirklichkeit ist, und so ist diese teure Erde und mit ihr alles, was wir über sie und das sie umgebende Universum denken, vielleicht nur ein Missverständnis, ein Missverständnis jenes Reichs, das er jetzt nicht anders bezeichnen könne denn als Reich, doch damit sage er nichts über es aus, denn es sei schwer, etwas über etwas zu sagen, dessen Wortschatz oder Grammatik wir nicht kennen, doch bei Bach gibt es diesen Wortschatz und diese Grammatik, und es sei egal, ob er es Gott oder Glaube nenne, das ist egal, Frau Kanzlerin, so schrieb er euphorisch, wenn wir es hören und ihn, Bach, hören, dann vergewissern wir uns, dass das Reich nicht nur existiert, es vielmehr auch einen Weg dorthin gibt, eine andere Frage ist, ob das alles ist, was wir von ihm sagen können, aber, so bog Florian auf die Zielgerade, von nun an, nicht wahr, wird keiner mehr bezweifeln, dass dies auf jeden Fall die geeignetste Methode ist, der Katastrophe zu begegnen, man muss im Sicherheitsrat Bach hören, man muss ihm zuhören, Frau Kanzlerin, und nicht nur der Sicherheitsrat muss Bach zuhören, sondern man muss ihn allgemeingültig einführen, im Fernsehen, im Radio, in jeder Schule, jedem Kaufhaus, jeder Sportarena, jedem Betrieb, jedem Zug und Flugzeug und Bus und auf jedem Schiff, jedem Mobiltelefon, auf dem Bildschirm jedes hochfahrenden Computers muss der Bach gespielt werden, was auch immer die Milliarden Menschen tun, immer müssen sie Bachs Musik hören, der Bach muss wie die Luft sein, und sie werden Bach nicht überdrüssig werden, denn auch der Luft werden sie nicht überdrüssig, der Bach muss unsichtbarer und beständiger Teil unseres Lebens auf der Erde sein, doch ich höre auf, für heute wollte ich Ihnen, Frau Merkel, nur das schreiben.