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Zum Tod von Madeleine Albright

Als ich an meinem Buch "Der Mächtige und der Allmächtige. Gott, Amerika und die Weltpolitik" arbeitete, las ich jeden Tag in der Bibel und beschäftigte mich eingehender mit meiner Haltung zur Religion und den damit verbundenen Riten und Lehren. Es gibt viele Passagen in der Heiligen Schrift, vor allem die antiquierten Moralvorstellungen und die Auge-um-Auge-Regelungen im Alten Testament, die mich zur Verzweiflung treiben könnten. Aber seit meiner Kindheit war Religion Teil meines Lebens. Als meine Familie rastlos umherzog (bevor ich zwölf wurde, hatten wir in fünf verschiedenen Ländern gelebt), war das Beten für mich etwas ganz Natürliches, denn ich fand es tröstlich zu wissen, dass mir irgendwo dort oben ein freundliches Ohr zuhörte. In meinem Schlafzimmer baute ich einen Mini-Altar auf und spielte Priesterin – ein frühes Zeichen von Ehrgeiz bei einem Kind, das sowohl katholisch als auch weiblich war.
So wuchs ich auf – mit einer Neigung zum Glauben. Ich gehörte zu den wenigen Schülerinnen, die sich auf den Katechismusunterricht freuten. Mein Gebetbuch war zweisprachig, mit Latein auf der einen Seite und Englisch auf der anderen. Der anmutige Rhythmus der Sprache bezauberte mich: Ave Maria, gratia plena ... In nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti. Auch berührte mich die Einfachheit dessen, worum die Gläubigen baten: die Vergebung der Sünden, den Schutz vor dem Bösen und das tägliche Brot. Kirchenmusik, auch wenn es oft Klagelieder sind, kann ebenfalls die Stimmung heben. Unvorstellbar, dass jemand nicht lächelt, wenn er Joyful, Joyful, We Adore Thee singt. Wie jede gute Literatur bietet die Heilige Schrift viel Provozierendes, Tröstliches und Verstörendes: Inmitten der Lehren für das menschliche Herz gibt es Sagen von Exil und Errettung, große Prophezeiungen, lehrreiche Parabeln und das Versprechen, dass ein Licht die Welt erhellen werde, dem die Dunkelheit nichts anhaben kann. Dies alles regt sehr zum Nachdenken an.
Die religiöse Prägung durch meine Eltern war unterschiedlicher Art. Meine Mutter besuchte regelmäßig die Messe, mein Vater hingegen nur an Ostern und Weihnachten. Ihm missfiel die von der Kirche praktizierte Methode, eine Identifikationsnummer auf die Spendenumschläge zu drucken, ein Kontrollsystem, das er für despotisch hielt. [...]
In meinem Bekanntenkreis gibt es Menschen, deren Religiosität auf dem festen Glauben an eine persönliche Offenbarung fußt und die ihre Kommunikation mit Gott buchstäblich für wechselseitig halten. Ich beneide sie darum, denn diese Gewissheit verspüre ich nicht. Ich habe keine erregenden Marienerscheinungen erlebt, mich nie von einem Engel berührt gefühlt, und in meinen Träumen hat sich Jesus nie neben mich gesetzt und mit mir gesprochen. Auch kenne und beneide ich Gelehrte, die über die Parallelen zwischen den sumerischakkadischen und hebräischen Sintflut-Mythen dozieren und 20 verschiedene christliche Häresien aufzählen können. Der einzige Religionskurs, den ich während meines Studiums besuchte, war das Pflichtseminar in Wellesley (Altes Testament im Wintersemester, Neues Testament im Sommersemester), geleitet von einem Literaturprofessor. [...]
Mein Mangel an religiöser Kenntnis ist nichts Ungewöhnliches. Kirchenlehrer räumen ein, dass Glaubensgemeinschaften oft weniger durch ein verbindendes Kontingent theologischer Überzeugungen zusammengehalten werden als durch eine Mischung aus überkommenen Bräuchen, dem Wunsch nach Zugehörigkeit, dem hypnotischen Reiz des Rituals und der Furcht vor dem, was möglicherweise nach dem Tod kommt. Das kann durchaus der Fall sein, egal, um welche Glaubensrichtung es sich handelt. Bei Kaffeekränzchen der Kirchengemeinde habe ich oft gehört, wie Gemeindemitglieder den Pfarrer bei dem einen oder anderen Thema fragten: "Was glauben wir?" Diese Frage zeugt nicht unbedingt von einer gefestigten Religiosität. Ich habe auch zahlreiche Studenten unterrichtet, die einem Glauben anhingen, dessen Grundlagen ihnen kaum vertraut waren. So ist es eben in der Welt. Meiner Erfahrung nach neigen Menschen dazu, mehr zu reden, als zu denken, und felsenfeste Ansichten zu vertreten, ohne sie zu hinterfragen.
Dennoch gibt es einen riesigen Markt für religiöse Bildung, der sich an alle Altersstufen richtet – von den Allerkleinsten bis zu jenen, die schon bald vor ihren Schöpfer treten werden. Die Religion zieht Wahrheitssucher an, weil sie dem menschlichen Verlangen entspricht, sich als Teil von etwas zu fühlen, das größer und universeller als man selbst ist. Sie ist nicht die einzige Möglichkeit, um das zu erreichen, doch sie ist ein Weg, mit Fragen zum Ursprung und Sinn des Lebens und zu unserem Platz in den offenbar unendlichen Gefilden von Zeit und Raum umzugehen. Mit Fragen umzugehen ist jedoch nicht das Gleiche, wie Antworten zu finden, deren wir uns sicher sein können.
Ich bin eine Gläubige, die Zweifel hegt – zugegebenermaßen eine eher lasche Geisteshaltung. Vieles erscheint mir undurchsichtig, auch wenn ich jahrelang versucht habe, einen klaren Blick darauf zu gewinnen. Angesichts der vielen Ungerechtigkeiten im Großen und Kleinen, die wir auf diesem Planeten erleben, scheint mir die Vorstellung eines allmächtigen, gnädigen, stets fürsorglichen höchsten Wesens, das dafür verantwortlich ist, absurd. Stattdessen denke ich, dass wir, die wir über einen freien Willen verfügen, ständig in einem Kampf zwischen Gut und Böse stehen und dass es ein entscheidender Teil unserer Prüfung auf Erden ist, den Unterschied zwischen beidem zu erkennen. Wenn dabei Gott stets an unserer Seite ist, umso besser, selbst wenn das sichtbare Ergebnis von unserem eigenen Handeln abhängt und nicht von einem aus dem Himmel herabfahrenden Donnerkeil.
Für mich ist das die Stelle, wo der Glaube ansetzt.
Ich kann mich nicht mit einer Welt abfinden, die ohne jeden göttlichen Funken ist, in der alles durch physikalische und biologische Interaktionen erklärt wird und nichts eine höhere Bedeutung hat. Falls dies wirklich der Fall sein sollte, bitte sehr, aber ohne mich. [...]
Dankbarkeit ist ein Grund, warum ich im Gebet einen Wert sehe. Für einen Atheisten wird sich das vielleicht töricht anhören, aber ich bete täglich zu Gott, dessen Existenz ich nicht belegen und dessen Gestalt ich nicht erfassen kann. Ich bete für die Menschen, die ich kenne (und für viele, die ich nicht kenne), die körperlich oder seelisch krank oder von Krieg oder einer anderen Quelle des Elends bedroht sind. Dank meiner Andacht erinnere ich mich täglich voller Mitgefühl für einige Minuten an jene Menschen, an die ich sonst vielleicht nicht denken würde. Das führt manchmal zu einem Besuch, einem Anruf, einem Brief, einem Gefallen, einem Appell, vielleicht zu einer Spende an eine soziale Einrichtung oder zu einer gemeinnützigen Aktivität. Multiplizieren Sie meine kleine Erfahrung mit der von Milliarden anderer betender Menschen, und plötzlich ist dieser möglicherweise imaginäre Gott eine ebenso große Wirkmacht für das Gute – das wirkliche, greifbare Gute – wie jede irdische Kraft. Ist das ein Beweis für die Existenz Gottes? Wenn es das wäre, könnten wir auch von der Existenz des Weihnachtsmanns ausgehen, wegen all der Briefe, die wir ihm schreiben. Aber wenn Beten ein Gewinn ist, und das ist es, warum soll man dann nicht der Quelle der Andacht ein wenig Glaubwürdigkeit zugestehen?
Quelle: Madeleine Albright, Die Hölle und andere Reiseziele: Eine Autobiografie im 21. Jahrhundert. Köln 2020.


Münsteraner Forum für Theologie und Kirche (MFThK)