Ergänzungen? Hinweise an
webmaster(x)theologie-und-kirche.de

Der neue Roman von Ian McEwan

Über den eigenen Tod hatte er nie nachgedacht. Er war davon überzeugt, dass die üblichen Assoziationen – Dunkelheit, Kälte, Stille, Verfall – bedeutungslos waren. All das konnte man spüren und verstehen. Der Tod aber lag jenseits der Dunkelheit, sogar jenseits des Nichts. Wie seine Freunde glaubte er nicht an ein Leben nach dem Tod. Jeden Sonntag ließen sie die obligatorischen Abendandachten über sich ergehen und hatten nur Verachtung übrig für diese ernsten Pfarrer, die ins Internat kamen, für ihr endloses Geschwafel über einen nicht-existenten Gott, den sie endlos anflehten. Es war für sie eine Frage der Ehre, die Antworten der Gemeinde niemals mitzusprechen, nicht die Augen zu schließen oder die Köpfe zu senken und "Amen" zu sagen oder die Hymnen mitzusingen, auch wenn sie sich, aus einem Restgefühl von Anstand, erhoben und die Gebetbücher auf einer beliebigen Seite aufschlugen. Mit vierzehn waren sie gerade erst auf den Geschmack dieser herrlich renitenten Revolte gekommen.

Als sie aus dem Petit Palais in Paris kamen, brach es aus ihm heraus. Wenn er sich nur noch ein einziges Mal eine Madonna mit Kind ansehen müsse, sagte er, eine Kreuzigung, eine Mariä Himmelfahrt, eine Mariä Verkündigung, müsse er "kotzen". Historisch gesehen, fuhr er fort, habe das Christentum die Fantasie Europas wie eine kalte Totenhand erdrückt. Was für ein Glück, dass diese Tyrannei endlich vorüber sei. Die vermeintliche Frömmigkeit sei in Wahrheit die erzwungene Konformität innerhalb eines totalitären Gesinnungsstaates gewesen. Das im sechzehnten Jahrhundert infrage zu stellen hätte bedeutet, sein Leben zu riskieren. Als hätte man in Stalins Sowjetunion gegen den sozialistischen Realismus protestiert. Das Christentum habe nicht allein die Wissenschaft fünfzig Generationen lang behindert und gelähmt, sondern die gesamte Kultur, nahezu jede freie Meinungsäußerung, jede Form von Neugier. Eine ganze Epoche lang habe sie die freigeistigen Philosophien der klassischen Antike unter sich begraben und abertausend brillante Köpfe in die bedeutungslosen Kaninchenlöcher theologischer Spitzfindigkeiten gescheucht. Das Christentum habe sein sogenanntes Wort mit beispielloser Grausamkeit verbreitet und sich durch Folter, Repression und Tod an der Macht gehalten. Der sanftmütige Jesus, dass er nicht lache! Die ganze menschliche Erfahrung der Welt biete unendlich viele mögliche Themen, und doch seien die großen Museen überall in Europa mit demselben kitschigen Schund vollgestopft. Schlimmer als Popmusik. Der Eurovision Song Contest in Öl und Goldrahmen.

Die Bestatter brachten ihre Mutter in die Kirche und stellten den Sarg auf den Katafalk. Die Pfarrerin hieß sie willkommen. Unmöglich, nicht den Sarg anzustarren, in dem sie im Dunkeln lag, auf dem Rücken. Nur war sie nicht hier. Oder sonst wo. Und da war es wieder, das schlichte, immer aufs Neue verblüffende Kennzeichen des Todes – Abwesenheit. Die Orgel spielte ein vertrautes Intro, doch seit seinen rebellischen Jahren in Berners Hall brachte er es nicht über sich, Kirchenlieder zu singen. Egal, wie schön die Melodie, der Rhythmus der Verse, er fand die eklatanten, kindischen Unwahrheiten einfach zu peinlich. Dabei ging es ja nicht um den Glauben, sondern darum mitzumachen, Teil der Gemeinschaft zu sein. Zu Beginn wurde "All Things Bright and Beautiful" gespielt. Rosalinds Lieblingslied. Für Kinder wunderbar, aber wie konnten Erwachsene diesen kreationistischen Unsinn über die Lippen bringen? Da er niemanden verletzen wollte, stand er wie üblich da, das Gebetbuch auf der richtigen Seite geöffnet. Gleiches galt für "Pilgrim". Klabautermann! Böser Teufel! Er sah zu seinem Bruder hinüber. Robert stand aufrecht da, ohne Gebetbuch, und seine Lippen bewegten sich nicht.
Als der gedämpfte, verhaltene Gesang verklang, trat Roland ans Pult, um die Totenrede zu halten. [...] Roland schloss mit den Worten, Rosalind habe einmal [...] gesagt, die Reise in den Himmel dauere genau drei Tage. "Soll heißen, sie dürfte am 29. Dezember so gegen 17.30 Uhr dort eingetroffen sein. Und ich bin mir sicher, wir alle wünschen uns, dass sie dort ein bequemes Plätzchen gefunden hat." Als er auf seinen Platz zurückging, kam er sich wie ein Betrüger vor. So etwas konnte er zum Schluss seiner Rede sagen, auch wenn es eher humorvoll gemeint war, doch ein harmloses Kirchenlied brachte er nicht über die Lippen.


Münsteraner Forum für Theologie und Kirche (MFThK)