"7 Fragen an ..." – Das MFThK-Kurzinterview
55. Folge: 7 Fragen an Jan-Heiner Tück
anlässlich des Erscheinens seines Buches

Jede Woche erscheint eine Menge neuer für die Theologin und den Theologen interessanter Bücher – es ist schwierig, hier eine Auswahl für die eigene Lektüre zu treffen. Das Münsteraner Forum für Theologie und Kirche möchte bei der Orientierung auf dem Feld der Neuerscheinungen hilfreich sein und hat deshalb 2012 die Rubrik "7 Fragen an ..." – Das MFThK-Kurzinterview gestartet.
In unregelmäßiger Folge werden bekannte und weniger bekannte Autoren von Neuerscheinungen gebeten, sieben Fragen zu beantworten – die ersten sechs Fragen sind stets dieselben, nur die siebte und letzte Frage ist eine individuelle Frage.
Die Fragen der 55. Folge beantwortet der Wiener Theologe Jan-Heiner Tück zu seinem neuen Buch Crux. Über die Anstößigkeit des Kreuzes.

1. "Bücher, die die Welt nicht braucht." Warum trifft das auf Ihr Buch nicht zu?

Brauchen? Das scheint mir im Zusammenhang mit Büchern eine schwierige Kategorie. Des Bücherschreibens ist ja kein Ende unter der Sonne - und in den beschleunigten Lebenswelten heute haben Bücher meist nur eine kurze Verweildauer. Die Erinnerung an die Anstößigkeit des Kreuzes dürften manchen sogar "unbrauchbar" erscheinen. Sie durchkreuzt ja die funktionalistischen Imperative der Leistung und Effizienzsteigerung. Gerade so aber kann der Blick auf das Kreuz das Sensorium für die schärfen, die durch die Maschen fallen, die nicht mehr mitkommen, die ausgebrannt sind. CRUX problematisiert überdies, was ich die Politik der weißen Wand nenne, also die Tendenz, Kreuze und Kruzifixe aus dem öffentlichen Raum zu entfernen, ohne noch einmal nach der theologischen Bedeutung des Symbols zu fragen oder religionsrechtliche Alternativen zu erwägen. Natürlich ist das Zeichen des Kreuzes historisch belastet, politische und imperiale Instrumentalisierungen gab und gibt es ebenso wie eine spirituelle Überfrachtung des Leidens, die pathologische Züge annimmt. Auch ist klar, dass mit Blick auf Anders- und Nichtgläubige behutsam mit religiösen Symbolen im öffentlichen Raum umzugehen ist, aber ein laizistischer Ikonoklasmus, der auf die "Privilegierung der Religionslosen" (Georg Essen) hinausläuft, scheint mir keine gute Lösung. Ob in einer Gesellschaft, die dabei ist, religiös bunter und zugleich deutlich säkularer zu werden, das Kreuz produktive Anstöße bieten kann, die über den Radius von Theologie und Kirche hinausreichen, ist eine Frage, die ich mit Nachdruck aufwerfen möchte.

2. Welche neuen Perspektiven eröffnet Ihr Buch?

Streng genommen keine! Im forcierten Wettbewerb um "innovative Ansätze" in der Gegenwartstheologie geht vieles verloren, was erinnerungswürdig wäre und neu gehoben werden müsste. Wenn wir nur in etwa präsent halten könnten, was andere vor uns gedacht haben, wäre schon viel gewonnen – auch an Widerlagern gegen einen allzu geschmeidigen Beschleunigungskonformismus in Gesellschaft und Kirche. Im Sinne eines ressourcement versucht CRUX daher einen ganzen Fächer von Perspektiven auf das Mysterium des Kreuzes zu werfen, die weit in die Geschichte zurückreichen, um den Horizont zu weiten, aber auch Stellung nehmen zu aktuellen religionspolitischen Konfliktlagen.

3. Welche Bedeutung kommt dem Thema in aktuellen theologischen und kirchlichen Debatten zu?

Das Buch geht, wenn ich das zunächst sagen darf, auf eine biographische Verstörung zurück. Das Rektorat der Universität Wien hat im WS 2017/18 eine Verlegung der Hörsäle der Katholischen Theologie angeordnet – verbunden mit der Auflage, dass in den neuen Hörsälen fortan keine religiösen Symbole mehr anzubringen seien. CRUX will diesen Vorgang nicht kulturpessimistisch beklagen, sondern die weiße Wand zu einem theologie- und kulturproduktiven Ort machen. Das Kreuz ist ja keineswegs nur in der Theologie, sondern auch in anderen universitären Disziplinen Thema. Neben theologischen kommen daher philosophische Zugänge, literarische Zeugnisse und künstlerische Produktionen in den Blick.
Konkret setze ich bei Präfigurationen aus der antiken Kultur ein, die in der dogmatischen Theologie heute kaum eine Rolle mehr spielen. Die elektrisierende Stelle in Platons Politeia etwa, dass der wahrhaft Gerechte in einer ungerechten Welt verleumdet, gegeißelt und am Ende "gekreuzigt" werden wird, Gestalten aus der antiken Tragödie, die freiwillig bereit sind, ihr Leben "für andere" zu geben, oder die faszinierende Vielfalt an Deutungen, die der Mythos von Odysseus am Mastbaum bei den Kirchenvätern gefunden hat, lassen sich auf die Passion Jesu Christi hin lesen. Aber auch biblische Texte wie das vierte Lied vom leidenden Gottesknecht (Jes 53) oder die Bindung Isaaks (Gen 22) sind typologisch auf Golgatha bezogen worden. Aus der Patristik kommen Melito von Sardes, auf den das dunkle Wort vom "Gottesmord" zurückgeht, oder Tertullians Einspruch gegen die These der Doketen, dass Christus nur zum Schein gelitten habe, zu Wort. Dem Descensus ad inferos, in dem die Kirchenväter den rückwirkenden Heilseffekt des Todes Christi gesehen haben, gilt ein weiterer Essay, der die Linien bis in die Verlorenheitserfahrungen des 20. Jahrhunderts auszieht. Theologische Klassiker wie Anselm von Canterbury, Thomas von Aquin und Luther dürfen beim Thema Kreuz natürlich ebenfalls nicht fehlen, aber sie werden erweitert durch Sichtweisen von Dostojweski, Nietzsche, Celan und Handke. Historische Erinnerungsorte machen das theologiepolitische Provokationspotential bewusst. So hat im Oktober 1938 eine aufgestachelte Gruppe der Hitler-Jugend ein Kreuzesbild im Erzbischöflichen Palais in Wien malträtiert. Kardinal Innitzer hatte in Andacht im Stephansdom Christus "unseren einzigen Führer" genannt und dadurch Proteste im Zeichen des Hakenkreuzes hervorgerufen. Dem "achten Sakrament" des Totengedenkens ist ein Beitrag über den englischen Soldatenfriedhof am Niederrhein gewidmet, der tausende Grabstelen um das "Cross of Sacrifice" gruppiert – ein Ort, der mich schon als Kind tief beeindruckt hat. Essays zu neueren religionspolitischen Kontroversen um das Kreuz schließen sich an, bevor ein Versuch über Auferstehung das Finale des Fächers an Perspektiven bildet.

4. Mit wem würden Sie Ihr Buch am liebsten einmal diskutieren?

Gerne hätte ich über CRUX mit Johann Baptist Metz und Hans Urs von Balthasar diskutiert. Metz hatte ein waches Organ für Leidensgeschichten und Brüche. Er versteht unter Gottespassion die Leidenschaft des Menschen für Gott, die, wie das Geschick der Opfer zeigt, in ein Leiden an Gott führen kann. Der Verlassenheitsschrei des Gekreuzigten ist für ihn der Ort, das tödliche Verstummen der Opfer der Geschichte christologisch hörbar zu machen. Für Balthasar hingegen – das hat er in seiner Theodramatik deutlich gemacht – ist Gottespassion die Leidenschaft der Caritas Gottes, die in der Passion des Gekreuzigten ihre äußerste Gestalt findet. Die ganze Theologie Balthasars, die den weiten Gedächtnisraum des abendländischen Gottdenkens einbezieht, kreist um das mysterium crucis und lotet das Geschehen von Golgatha kühn bis in die trinitätstheologischen Hintergründe aus. Während ich in CRUX für Metz wahrscheinlich passagenweise zu weit gegangen bin, bin ich für Balthasar wohl nicht weit genug gegangen. Das hätte ich gerne mit beiden einmal näher erörtert. Balthasar und Metz liegen in manchen Frageinteressen ohnehin näher beieinander, als die gängige Karthographie der theologischen Positionen meint.

5. Ihr Buch in einem Satz:

Wenn ich den einen Satz etwas auffächern darf, würde ich sagen: Das Kreuz ist ein anstößiges Symbol: (1) sensibilisiert die öffentliche Erinnerung an die Passion Christi für die Leiden der anderen und macht zugleich die eigene Verwundbarkeit bewusst; (2) spiegelt das Kreuz die eigene Schuldanfälligkeit und leitet zu einer Kultur der Wahrhaftigkeit an; in der Betrachtung des Gekreuzigten endet die Banalisierung des Bösen; (3) unterbricht das Kreuz die Mechanismen der Fremdbezichtigung und lädt ein zu einer Kultur der Vergebung, die den anderen nicht auf die Summe seiner Fehler fixiert im Sinne der Feindesliebe – "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun (Lk 23,34); (4) zeigt das Kreuz einen Sterbenden, der nach Gott schreit und verstummt – ein Zeichen, dass in Situationen der metaphysischen Obdachlosigkeit, der Trauer und Verlorenheit ein Mitverlorener da ist, der in Situation der Einsamkeit und Isolation Kraft und Trost (consolatio) gewährt; (5) schließlich ist das Kreuz österliches Symbol des Übergangs vom Tod zum Leben, es enthält das Versprechen einer Lebensfülle, die alle unsere Vorstellungen übersteigt und die Bio- oder Cybertechnik nie werden erreichen können.

6. Sie dürfen fünf Bücher auf die sprichwörtliche einsame Insel mitnehmen. Für welche Bücher entscheiden Sie sich?

Die Heilige Schrift, vor allem wegen der Partitur der Psalmen, des Johannes-Evangeliums und der Paulus-Briefe
Thomas von Aquins Summa theologiae samt den eucharistischen Hymnen
Dantes Divina commedia
Dostojewskis Der Idiot
Eine Sammlung von Gedichten (Gryphius, Hölderlin, Benn, Celan, Lehnert)
In den Koffer für die Insel müsste unbedingt auch eine Box mit 10 CDs: darunter Bachs Wohltemperiertes Klavier, seine h-Moll Messe und Matthäus-Passion; Mozarts d-moll Klavierkonzert; Beethovens Klaviersonate op. 111; Chopins Balladen und Scherzi; Schumanns "Kreisleriana"; Brahms Violin-Konzert; Bruckners 9. Symphonie ("dem lieben Gott" gewidmet); Mahlers 5. und 9. Symphonie; Rachmaninows 2. Klavier-Sonate (mit Vladimir Horowitz) und die Paganini-Variationen für Klavier und Orchester (mit Vladimir Ashkenazy); Ravels Klavier-Konzert in G-Dur (mit Martha Argerich); Strawinsky Psalmen-Symphonie.

7. Die siebte und letzte Frage stammt vom Gründer und Chefredakteur des MFThK: 7. Wie geschieht im Kreuzestod Jesu die Erlösung von Sünde und Schuld? Ging die Schuldgeschichte der Menschheit nicht auch nach der Hinrichtung Jesu auf Golgotha ununterbrochen weiter?

Dass Christus für uns gestorben ist, bildet wohl die innere Achse der neutestamentlichen Erlösungslehre, die allerdings in einer Vielzahl von Kategorien und Vorstellungsmodellen ausbuchstabiert wird. Systematisch betrachtet würde ich zunächst eine sündenfixierte Erlösungslehre aufbrechen wollen, um die Solidarität des Gekreuzigten mit den Erniedrigten und Beleidigten in Geschichte und Gegenwart zu betonen. Das ist ein wichtiger Impuls, der aus der neuen politischen Theologie und der Befreiungstheologie stammt. Um nun zugleich die Befreiung von Sünde und Schuld durch den Kreuzestod Jesu zu bedenken, würde ich – statt der semantisch belasteten Begriffe 'Opfer' und 'Sühne' – den Begriff 'Stellvertretung' ins Zentrum rücken und dessen räumliche Semantik stark machen. Christus ist in seinem Sterben an 'die Stelle' der sündigen Gottesferne getreten, um sich mit der Person des Sünders trotz seiner Sünden zu identifizieren. Diese Identifikation kann einen rettenden und erlösenden Effekt haben, wenn der Sünder diese Identifikation in Freiheit annimmt. Indem dieser wahrnimmt, dass Christus sich an seine Seite gestellt hat, kann er sich gegen sich selbst stellen und wird im Geist des Gekreuzigten befähigt, etwas zu tun, was er aus eigenen Stücken vorher vielleicht gar nicht tun konnte, nämlich sich von den moralischen Hypotheken seiner Vergangenheit reuevoll zu distanzieren, diese, wenn möglich, wiedergutzumachen, und neu anzufangen. Kreuzestheologie hat spirituell gewendet ja immer mit Umkehrprozessen zu tun!
Zum zweiten Aspekt der Frage: Das Geschehen auf Golgatha hat die Schuldgeschichte der Welt in der Tat nicht beendet, das ist richtig. Die Christologie ist geradezu zur Speerspitze des Antijudaismus geworden. Der jüdische Einspruch, dass die Signatur der Welt auch nach Christus unerlöst sei, ist ein Stachel für alle Formen christlicher Erlösungslehre. Sie kann und darf sich nicht triumphalistisch aufspreizen, sondern muss die Differenz zwischen schon geschehener Erlösung und noch ausstehender Vollendung beachten. Darauf hat Thomas Pröpper nachdrücklich hingewiesen. Mit diesem Verheißungsüberschuss tritt die Frage der Parusie Christi in den Fokus der Aufmerksamkeit, die dem christlichen Zeitbegriff eine nach vorne hin offene Erwartung einschreibt! An Ostern aber feiern wir, dass der Gekreuzigte lebt und die Macht des Todes gebrochen hat.


Münsteraner Forum für Theologie und Kirche (MFThK)