Die Memoiren von Peter Urban

Ganz Quakenbrück war in Aufregung, es war der 4. November 1961. Der Norddeutsche Rundfunk war mit einem riesigen Übertragungswagen angerückt ... Am Sonntag sollte aus unserer Kirche die Messe in Zigtausende nordwestdeutscher Haushalte übertragen werden. Techniker verlegten endlos lange Kabel, stellten Mikrofone auf, die am Samstagnachmittag bei einer Generalprobe getestet wurden. Ich war dreizehn und als Messdiener involviert. Wer schon einmal eine katholische Messe erlebt hat, weiß, dass da immer wieder Handglocken geläutet werden müssen; diese ehrenvolle Aufgabe war mir zugeteilt geworden. Ich verfolgte die Operation des NDR genauestens, war vom technischen und personellen Aufwand schwer beeindruckt ... Am Sonntagmorgen gespannte Stimmung in der Sakristei, selbst der sonst so souveräne Kaplan scheint nervös zu sein, er soll die Lesung vortragen. Punkt 9.45 Uhr ertönt die Orgel, das Vorspiel. Wir marschieren ein, vier Messdiener in weiß-roten Gewändern, drei Priester. [...] Ich schüttle die Handglocken mit einer solchen Kraft und Inbrunst wie nie zuvor, mein erster Auftritt im Radio war gerettet.

Unsere Familie integrierte sich schnell und fleißig in das Quakenbrücker Stadtleben und die katholische Gemeinde, Vater als hoher Beamter, CDU-Mitglied, Stadtrat und Kirchenvorstand in einer Vierfachrolle zwischen Karriere, Partei, Politik und Kirche, die mein Bruder und ich immer kritischer betrachteten, Mutter als Organistin, die Söhne als Messdiener mit den üblichen, eher irdischen als himmlischen Erlebnissen. Trotz aller Zweifel rollten mein Bruder und ich uns für die werktäglichen Frühmessen um Viertel vor sechs aus dem Bett, rasten bei jedem Wetter mit dem Rad zur Kirche, wo man in der Sakristei auf einen ebenso unausgeschlafenen Kaplan traf, den eine betäubende Wolke aus Restalkohol, Rasierwasser und Messwein umgab. Sonntags wehten uns in den festlichen Hochämtern Schwaden von Weihrauch um die Ohren, weil wir Messdiener die dampfenden Fässer mit dem glühenden Harz in wahrem Feuereifer hin und her schwenkten, wie ein Hammerwerfer seine Drahtkugel vor dem Abflug. [...] Meinen ersten Radioauftritt als "live on air" klingelnder Messdiener hatte ich ja schon hinter mir. Den Sonntagsgottesdiensten verdankte ich aber auch meine ersten Erfahrungen als "Sprecher". Seit den frühen 60er-Jahren wurde die Messe nicht mehr nach lateinischem Ritus, sondern in deutscher Sprache zelebriert .... Sogenannte Lektoren durften Gebetstexte, Fürbitten und Lesungen vortragen, ich war zunächst scheu und zittrig, gewann aber mit der Zeit immer mehr Sicherheit und bekam richtig Spaß daran, laut zu sprechen, mit Betonungen und Rhythmus zu spielen, für mich perfektes öffentliches Stimmtraining am Mikrofon. Moderne Zeiten in St. Marien, der Relaunch der katholischen Messe erlaubte uns später sogar, in der Kirche zu rocken, wenn auch mit gebremster Lautstärke. Wir, ein Kreis befreundeter Musiker, durften später dank der Initiative eines fortschrittlichen Geistlichen einen der allerersten "Beatgottesdienste" mit Rockband und deutschen Texten abhalten ...


Münsteraner Forum für Theologie und Kirche (MFThK)