Ergänzungen? Hinweise an
webmaster(x)theologie-und-kirche.de

Zum Tod von Vivienne Westwood

Eine weitere prägende Erfahrung aus meiner frühen Kindheit nach der Geburt meiner Geschwister Olga und Gordon hängt mit der Religion zusammen. Als ich zum ersten Mal eine Abbildung von der Kreuzigung Jesu sah, bedeutete das eine einschneidende Erfahrung für mich. Ich habe schon öfter davon erzählt und bin mir bewusst, dass es überheblich oder prätentiös klingen mag, aber ich war damals zutiefst schockiert. Zum Teil mag es daran gelegen haben, dass ich mich von den Erwachsenen belogen fühlte. Ich erinnere mich noch daran, als sei es gestern gewesen: Ich war mit meiner Cousine Eileen, die damals ungefähr zwölf war, hinten im Obst- und Gemüseladen meiner Tante. Ich weiß noch, dass der Wasserhahn tropfte, und erinnere mich an den Geschmack des Lollis, den meine Tante uns gegeben hatte. Ich starrte den Kalender an der Wand an. Vielleicht war es Ostern; jedenfalls war da ein Bild der Kreuzigung zu sehen.
"Was ist das, Eileen?"
"Du weißt nicht, wer das ist? Dummchen. Das ist Jesus, als er ans Kreuz genagelt wurde."
Ich sagte nichts mehr, so schockiert und bewegt war ich. Ich hätte davon wissen müssen, war aber vollkommen ahnungslos. Ich kannte nur das kleine Baby Jesus in seiner Krippe. Es war unfassbar für mich, dass es Menschen auf der Welt gab, die so etwas schreckliches tun konnten. Ich wusste mit der Leidenschaft eines Kindes, dass ich diese Menschen aufhalten würde, und wenn ich sterben musste, ich würde sie aufhalten! Ich habe niemandem erzählt, wie ich mich gefühlt habe. Denn sogar in diesem Zusammenhang schämte ich mich für meine Ahnungslosigkeit – andere wussten von dieser Ungerechtigkeit, hatten aber versäumt, sie mir zu erklären. Meine Unwissenheit empfand ich als Verbrechen. Ihre Gleichgültigkeit ebenfalls. Niemand redete darüber: Warum waren die anderen nicht entsetzt?
Daraufhin entwickelte ich als Kind eine tiefe Liebe zu Jesus. Keine Christin zu sein wäre ein Verrat gewesen und hätte bedeutet, seine Qualen einfach zu ignorieren. Und was kam dabei heraus? Ich wurde die erste fünfjährige Freiheitskämpferin von Derbyshire! Entschlossen, mich ungerechter Verfolgung entgegenzustellen!
Irgendwie vermischte ich den Schock der Geburt meiner jüngeren Geschwister Olga und Gordon und die Sache mit der Kreuzigung in meinem jungen Verstand und kam zu dem Schluss, dass mir die Erwachsenen wirklich Wichtiges vorenthielten! Sie sollten nicht zulassen, dass solche Dinge geschahen. In meinem Kopf geriet all das ziemlich durcheinander und ich begann, mich vor katholischen Kirchen und ihrer Kunst zu fürchten.
Quelle: Vivienne Westwood/Ian Kelly: Vivienne Westwood. Köln 2014.

Nach der Heirat und der Geburt meines Sohnes Ben veränderte ich mich. Unter anderem verlor ich meinen Glauben an Gott. Da war ich erst einundzwanzig. Mein Bruder Gordon hatte zu dieser Zeit eine wunderbare amerikanische Freundin, Lesley, die eine Zeit lang bei mir wohnte und mich unterstützte. Das war 1962. Sie war vehement gegen den Vietnamkrieg und obwohl sie nicht lange bei uns blieb, riss sie mich aus meiner politischen Naivität. Als sie erkannte, dass ich praktizierende Christin war, forderte sie mich dazu heraus, meine Position zu verteidigen, und ich stellte fest, dass ich es nicht konnte. Ich glaubte bereits nicht mehr so richtig an das Dogma, doch als ich mir selbst eingestand, dass die ganze Sache nur durch meine emotionale Bindung aufrechterhalten wurde – eine Vorstellung, von der ich als Kind geprägt wurde, mein persönliches Engagement angesichts des leidenden Christus und all das –, da brach alles vor meinen Augen zusammen wie ein Kartenhaus. Die kleine naive Kirchenmaus wachte allmählich auf. Ich wollte selbst entscheiden, wozu ich Amen sagte. Ich wollte nur noch lesen, lesen und lesen und es herausfinden.
Quelle: Vivienne Westwood/Ian Kelly: Vivienne Westwood. Köln 2014.


Münsteraner Forum für Theologie und Kirche (MFThK)