Zum Tod von Volkmar Sigusch
Volkmar Sigusch:
Sexualitäten. Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten
Unsere Sexualität ist heute oft so banal, weil sie viele ihrer Geheimnisse verloren hat. Das ist insofern ein Drama, als Sexualität ohne Geheimnis, das der kluge Soziologe Georg Simmel als die größte Er findung des Menschen bezeichnet hat, zwar nicht tierisch ist, aber unmenschlich. [...] Gibt es kein Geheimnis mehr, ist Sexualität uninteressanter als ein Fußballspiel.
Es ist ein modernes Märchen, dass das Leben arm und langweilig sei ohne sexuelle Aktivität. [...] Eine geistige Begegnung mit einem anderen Menschen kann sehr viel erregender sein als eine sexuelle, und auch befriedigender.
Wissenschaftler übergehen gerne das, was sich nicht sagen lässt, in der Kunst, in der Religion, in der Musik, im Erotisch-Sexuellen. Dort trifft aber das Nichtbegriffliche den Kern.
Es bleibt, dass weder Sexuelles noch Sexualität in irgendeinem Begriff aufgehen. Immer meinen sie mehr.
Sexualforscher können zählen und messen, so lange sie wollen; dem Eros werden sie nie auf die Schliche kommen.
Die katholischen Kirche bleibt prämodern, und wir nehmen zur Kenntnis, dass es nach wie vor Bereiche gibt, in denen die Aufklärung der letzten einhundert Jahre noch gar nicht angekommen ist.
Wann kannst du sicher sein, geliebt zu werden? Wenn du in den Armen der anderen sterblichen Person wie ein kleines Kind weinen kannst, ohne ein Gefühl der Scham.
Volkmar Sigusch: Das Sex-ABC
Ist der Liebe wie dem Sexuellen seelisch und sozial die Funktion zugewiesen, gesellschaftliche Leere zu überbrücken, Lücken aufzufüllen, Sinn vorzutäuschen, Lebendigkeit einzublasen, die Menschen überhaupt noch etwas Menschliches spüren zu lassen, so tun beide eben dies alles. Denn wir wollen alle lieben und geliebt werden, auf dass unsere kleine Welt voller erregter Harmonie sei und die große wenigstens augenblicklich in Ordnung.
Will die Katholische Kirche angesichts ihrer seelenzerstörenden Seelsorger in Zukunft als moralische Instanz in Sachen Sexualität mitreden, muss sie sich zunächst einmal selbst geißeln und dann begreifen, dass das Sexuelle zum Menschen gehört wie das geistige Phantasieren und das körperliche Verdauen und dass es als solches nichts Böses ist. Sollte sie das eines Tages tatsächlich begreifen, wird sie im Einklang mit den heiligen Schriften den Zölibat abschaffen, Frauen zu Priesterinnen weihen, Geschiedene und Homosexuelle nicht mehr diskriminieren und die Pädosexuellen in ihren Reihen mit Herzensgüte und Respekt in abstinente Pädophile verwandeln. Und die heute heimlich mit einer Frau oder einem Mann zusammenlebenden Priester könnten sich als Hetero- oder Homosexuelle zu ihrer Liebe bekennen. Oh, mein Gott.
Das Kapital ist heute das moderne Goldene Kalb, um das getanzt wird. Es ist das Ineffabile, das das Tabu und Gott abgelöst hat. Der Kapitalismus ist bei uns zur Allerwelts- und Staatsreligion geworden.
Papst Franziskus sorgte gegen den Widerstand seiner Umgebung dafür, dass jetzt in der katholischen Liturgie auch Frauen zum Ritual der Fußwaschung zugelassen werden dürfen. Selbst Frauen! Was für ein unglaublicher Akt der Humanisierung! Sie dürften jetzt bedient werden! Von Männern! Donnerwetter!