Zum 100. Geburtstag von Wilhelm Hennis

Hennis schrieb vor über 50 Jahren:

Neben die evidente atomare Gefährdung der Menschheit und die nun endlich erkannte ökologische tritt aber eine weitere, vor der der moderne, weltlich aufgeklärte Mensch gerne den Kopf einzieht: die Zerstörung aller Transzendenz. Steckt man das Handlungsfeld ab, in dem moderne Politik agiert, so ist neben der alle Kraft in Anspruch nehmenden Sorge ums Leben überhaupt (Friedenssicherung, Umweltschutz) dies sicher die einschneidenste aller Veränderungen der traditionellen Voraus-Setzungen der Politik. Die Auflösung der religiösen Grundlagen in allen Gesellschaften unserer Zeit ist ein Faktor, dessen politische Relevanz von niemandem übersehen werden kann. Die große politische Philosophie der Neuzeit, von Machiavelli, Hobbes, Spinoza zu Kant und Rousseau hat sie auch nicht übersehen. Alle ihre großen Schriften sind im Kern politisch-theologische Traktate. Erst die Verfallsprodukte der Aufklärung, Marxismus und Positivismus, haben geglaubt, das Thema auf dem Schutthaufen der Geschichte karren zu können. Seitdem tun wir uns groß darin, die religiösen Vorstellungen über die Schöpfungsnatur des Menschen, über die besondere Stellung, die ihm im Universum nach diesen Vorstellungen zukommt, als "Tabus", "Ideologien" etc. abzuklassifizieren. Vom Gesichtspunkt eines bestimmten Wissenschaftsbegriffs ... mag das so sein. Aber man sollte darüber doch zumindest nicht übersehen, welche Funktion diese Vorstellungen für die Reproduktion und Sicherung menschlichen Zusammenlebens offenbar in der ganzen bisherigen Geschichte ... in unserem abendländischen Kontext gehabt haben. Ohne die nur religiös begründbaren Vorstellungen über die besondere Natur des Menschen, seine Heiligkeit weil Gottesebenbildlichkeit, seine gottgestiftete Vernunftnatur etc. bleibt der Mensch dem Menschen, wenn es sehr gut geht, ein Mensch ..., wenn es weniger gut geht, ein Lebewesen der gleichen Gattung - an der dann aber die Differenzen nach Rasse oder Klasse in den Vordergrund des Interesses treten; wenn es schlecht geht, ein beliebiges Bioprodukt wie Pflanze oder Tier, an der man sich ungestraft auch züchterisch betätigen kann. Wenn die Primärfunktion aller traditionellen Politik der Schutz des Menschen als Gattungswesen war, so waren die religiösen Vorstellungen ... die eigentliche Basis, von der aus der Staat das seine wahrzunehmen versuchen konnte. Die Einhaltung der sittlichen und religiösen Normen aus eigener Kraft oder Sanktion erlaubte allein Zurückhaltung ("Toleranz") des Staates. Ist das Leben eines Menschen nach menschlicher Vorstellung aber nicht mehr wert als das Leben eines Frosches, so hat Politik ausgedient. ...
Es sei hier nur daran erinnert, dass selbst ein so radikaler Aufklärer wie John Locke in seinem "Brief über Toleranz" den Atheisten die Toleranz noch glaubte versagen zu sollen. Jemandem, dem nichts heilig sei, der nicht an einen göttlichen Richter glaube, der nicht an den Grundsatz auch des rationalen Naturrechts, dass Verträge einzuhalten seien, glaube, den könne man in einem Gemeinwesen nicht dulden, da er ein zu furchterregendes, zu unberechenbares Wesen sei. Ich glaube, es ist kein Zufall, sondern nur das Ergebnis disziplinierten Denkens, wenn die großen modernen Denker der Politik, die im Grunde bereits alle aufgeklärten Heiden waren, von Machiavelli bis Rousseau, sich eine staatliche Ordnung nicht vorstellen konnten ohne eine réligion civile, eine bürgerliche Religion, welche die Minimalbedingungen der Glaubensrequisiten statuierte, damit ein Gemeinwesen aufrechterhalten werden kann.
Quelle: Wilhelm Hennis, Ende der Politik? Zur Krise der Politik in der Neuzeit, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 25 (1971) 509-526.

Münsteraner Forum für Theologie und Kirche (MFThK)